Myzel – ein natürliches Multitalent

Ersatz für Kunststoffe, Leder, Fleisch

Pilze gelten als die Chemiker in der Natur, die eine wichtige Rolle für den natürlichen Stoffkreislauf spielen. Genau genommen ist es das fein gesponnene Wurzelwerk der Pilze, das Myzel, das dieses transformative Potenzial bereitstellt. Richtig genutzt könnten die erstaunlichen Fähigkeiten des Myzels Ausgangspunkt einer neuen Technologie werden. Werden wir bald in Pilzen wohnen, uns in Pilz kleiden und uns von Pilzen ernähren?

Von Detlef Scholz, Wolfratshausen

Kunststoffe sind aus unserer komfortablen Welt von heute kaum mehr wegzudenken: leicht, stabil, formbar, einfach zu pflegen und vor allem preisgünstig gibt es kaum einen Bereich des modernen Lebens, in dem wir Kunststoffe nicht verwenden. Immer häufiger allerdings mit einem schlechten Gewissen. Denn ihre Umweltbilanz gilt als schlecht. Nicht nur dass sie auf der Ressource Erdöl basieren, sie halten sich über Jahrhunderte in der Umwelt und belasten die Nahrungsketten. So konsumieren wir ungewollt circa fünf Gramm Mikroplastik/Woche. 1 Für diese Misere ist allerdings jeder einzelne mitverantwortlich. Denn wenn Plastikabfälle von jedem Erdenbewohner richtig entsorgt würden, könnten sie die Umwelt nicht derartig belasten. In einer Müllverbrennungsanlage könnte man aus Plastik zumindest noch thermische Energie gewinnen.

In einer geschlossenen Kreislaufwirtschaft dürfte es idealerweise nur Stoffe geben, die am Ende ihrer Nutzungsdauer das Ausgangsmaterial für den nächsten Zyklus bilden. Man nennt einen solchen Stoffkreislauf auch „cradle to cradle“ (s. raum&zeit Nr. 232 „Kreislauffähige Mode). So macht es die Natur vor. Betrachten wir Grafik 1, so kommen nur Stoffe aus dem rechten oberen Quadranten (I) infrage: Nachwachsend und zu 100 Prozent biologisch abbaubar. Die Grafik macht auch deutlich, dass biobasierte Kunststoffe aus nachwachsenden Rohstoffen nicht zwangsläufig auch biologisch abbaubar sind. Damit erfüllen sie nicht die Voraussetzung für den Stoffkreislauf.

Ideale Materialien stammen aus dem Quadranten rechts oben: biologisch abbaubar und aus nachwachsenden Rohstoffen

Myzel – ein komplexes Netzwerk

Zu den zykluskompatiblen Stoffen zählt ein Material, das seit einigen Jahren immer stärker in den Fokus von Öko-Enthusiasten, Künstlern, Architekten, aber auch Materialforschern gerät: Myzel, das fein verzweigte Wurzelnetzwerk von Pilzen. Was wir gemeinhin als „Pilz“ wahrnehmen, ist bloß der Fruchtkörper. Er enthält reproduktionsfähige Sporen, die von Wind, Wasser und Tieren in der Natur verbreitet werden. Die mikroskopisch kleinen Strukturen (Hyphen genannt, ca. 1/100 Millimeter dick) wachsen unter der Oberfläche und verzweigen sich fortlaufend zu einem komplexen dreidimensionalen Netzwerk.

Während des Wachstums hinterlässt das Myzel Verdauungsenzyme, mit denen es sich organisches Material einverleibt und so sein fungales Netzwerk ausbaut. Gewissermaßen zieht sich das Myzel am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Potenzialität in die Existenz. Technisch interessant dabei: Das Myzel „verleimt“ das organische Wirtsmaterial, so dieses denn lose und locker ist wie zum Beispiel Waldboden. Ähnlich wie ein Leim Holzspäne oder Sägemehl verbindet, verbindet das Myzel alle Arten von organischen Reststoffen wie Stroh, Sägespäne, Kaffeesatz, Spelz, Hanffasern und viele weitere zu einer Art Schwamm, dessen Maße und Eigenschaften durch technische Parameter und die Wahl der Pilzart einstellbar sind.

Beispielsweise lassen sich Porosität, Festigkeit, Textur, Elastizität und Faserorientierung des Myzels gezielt „züchten“ über einstellbare Parameter wie Temperatur, Luftfeuchtigkeit oder Lichteinfall. Ein leichter und stabiler Bio-Verbundwerkstoff wächst heran: feuerfest, Wärme dämmend, schallisolierend, feuchtigkeitsregulierend, hart, leicht, diffusionsoffen und vor der endgültigen Verfestigung frei formbar. So hergestelltes organisches Baumaterial lässt sich für Wand, Boden, Dach, als Wandziegel oder Platte, aber auch als Lederimitat, Farbstoff und sogar als Fleischersatz verwenden. Wird das Pilzmaterial zusätzlich gepresst, erreicht es einen ähnlichen Härtegrad wie Sperrholz und eignet sich auch für den Bau stabiler Möbel. Dadurch könnte es zu einer nachhaltigen, ungiftigen und kostengünstigen Alternative zu herkömmlichen Produkten im Werk- und Baustoffbereich werden. Bekanntermaßen werden Baumaterialien wie Spanplatten und Pressholz oft mit Formaldehyd als Bindemittel produziert, was toxisch (karzinogen) ist.

Myzelwand
„The Growing Pavilion“ (to grow = wachsen) besteht unter anderem aus 88 Myzel-Platten.

Pilzfabrik im Hinterhof

Bei alldem soll der Preis für Myzelprodukte sogar noch unter dem konventioneller Materialien wie Sperrholz liegen. Das wundert nicht, wenn man weiß, dass Myzel nur bis zu einem Zehntel der Energiemenge braucht, die in die Produktion erdölbasierter Produkte hineingesteckt werden müssen. Doch eines konsumieren die Myzel-Materialien deutlich stärker als Kunststoffe: Zeit. Gut Ding will eben Weile haben. Aufgehoben werden könnte dieser Nachteil dadurch, dass quasi in jedem Hinterhof eine kleine Pilz-“Fabrik“ stehen könnte, die in Kooperation mit biopolymerem 3D-Druck für eine kleinteilige, nachbarschaftsbezogene Wirtschaft die Rohstoffe liefert. Schließlich handelt es sich eher um eine Art Gärtnerei denn Fertigungsstätte.

Vorläufig dürften Pilzwerkstoffe vor allem im Bausektor zum Einsatz kommen: als Dämmmaterial in Form von Blöcken oder Platten und als Alternative zu mitteldichten Holzfaserplatten (MDF), wie man sie häufig für den Innenausbau benötigt. Auch als biologische Alternative zu Styropor und Sperrholz und allgemein als Bio-Recyclat in Verbindung mit organischen Bauabfällen könnte das Myzel nennenswerte Marktanteile gewinnen. Parallel wird an Baustoffen für den 3D-Druck (Biopolymere) sowie an der Herstellung organischer Farben und Pigmente geforscht. Zahlreiche Pilz-Pilotprojekte wurden erfolgreich umgesetzt. In Zukunft könnte das Biomaterial auch als Ersatz für traditionelles, nichttragendes Mauerwerk eingesetzt werden. Gleichzeitig wird untersucht, ob sich Myzel-Material auch auch für tragende Gebäudestrukturen und verbindende Bauteile eignet. Für Pilz-
ingenieure kommt es immer darauf an, die Wuchseigenschaften der Schwämme geschickt auszunutzen, um das gewünschte Material zu erhalten.

Kommen wir nun zu einigen konkreten Beispielen aus der weltweit sich entwickelnden Pilz-Wirtschaft. An erster Stelle zu nennen ist hier das US-amerikanische Unternehmen Ecovative 2 aus der Branche Bioökonomie und Vertical Farming (vertikale Landwirtschaft). Ecovative wurde 2007 gegründet und brachte 2011 das erste pilzbasierte Verpackungsmaterial der Marke „MycoComposit“ als Ersatz für Polystyrol auf den Markt. Nachteilig ist, dass es etwas schwerer ist als Polystyrol, denn das erhöht die Transportkosten. Dennoch zählen große Unternehmen wie Dell Computers zu den Kunden, die so natürlich einen Imagegewinn verbuchen können.

Unter ihrem Brand „AirMycelium“ erzeugt das Unternehmen zudem haltbares, zu 100 Prozent veganes Leder ohne jegliche synthetische Zusatzstoffe für die Mode- und Textilindustrie auf Basis von Pilztechnologie. Die Lederimitate sollen mit weniger Ressourcen und Energieeinsatz als echtes Leder hergestellt werden.

Pilzfleisch schneiden
Gewürzt und angebruzzelt schmeckt der Myzel-Fleischersatz „MyBacon“ von Ecovative am besten.
Fleischersatz in der Pfanne
Pilzfleisch mit Dip

Fleischersatz

Ecovative produziert auch einen Fleisch-ersatz unter der Marke „MyBacon“. Es soll einen ebenso hohen Proteingehalt haben wie Muskelfleisch, nur 20 Prozent des Fettanteils, dafür aber viele verdauungsförderliche Ballaststoffe. Der Erzeugerpreis soll mit
1 Dollar/Pound (1 Pound = 454 Gramm) unter dem Marktpreis für Schweinefleisch liegen. Während 1 Pound Schweinefleisch 600 Gallonen (1 Gallone knapp 4 Liter) Wasser erfordert, sollen es bei MyBacon nur ein paar Liter sein. Mycelium-Protein kann, im Gegensatz zu pflanzlichem Fleischersatz, eine ganze Reihe von Fleisch-sorten ersetzen. Dies hängt damit zusammen, dass die Myzelfasern je nach Dichte eine unterschiedliche Konsis-tenz aufweisen. Und da die Myzelfasern sehr ähnlich wie die Fasern von Muskelfleisch aufgebaut sind, soll es einen authentischen Kaugenuss bieten.

Ein weiterer Pluspunkt von Myzel-Fleisch ist, dass es nur minimal lebensmitteltechnisch prozessiert werden muss. Lediglich etwas Würze drauf und bon appetit! Sogar Veganer könnten hier zulangen, denn es handelt sich ja um ein rein pflanzliches Lebensmittel, das vollständig ohne irgendwelche schädlichen Chemikalien wie Pestiziden hergestellt wurde. Bis zum Jahr 2021 war MyBacon allerdings weltweit nur in einem einzigen Supermarkt erhältlich (in New York), was angesichts der vielen Vorteile von Myzel-Fleisch äußerst merkwürdig erscheint. Will man etwa keine unnötige Konkurrenz für die derzeit weltweit gehypten Speiseinsekten aufkommen lassen? Speiseinsekten bedeuten nichts anderes als Massentierhaltung mit den vielen fatalen Konsequenzen!

In den Ecovative Produktionsstätten 3 stehen bis auf einige Pressen und Gabelstapler eigentlich keine Maschinen. Es hat mehr was von einem Gartenbaubetrieb. Fachleute sprechen denn auch von „Vertical Farming“ (deutsch etwa: senkrechte Landwirtschaft). Im Wareneingang verzeichnet Ecovative organische Abfälle wie Holzspäne, Sägemehl, Spelz oder Hanffasern – alles Reste, die sonst weggeworfen werden. Diese werden in Behältern mit Pilzsporen und etwas Wasser besprüht und schon verrichtet die Natur ihr Werk. Das Myzel beginnt zu wachsen. Nach ein paar Tagen bis einigen Wochen sind die Pilzformen fertig für den Gebrauch. Die genaue Vorgehensweise beim Myzel-Wachstum ist Betriebsgeheimnis. Ecovative hält in 31 Ländern über 40 Patente. Weitere etablierte Myzel-Unternehmen sind zum Beispiel die Magical Mushroom Company 4, Grown.bio 5 und Bio Fab 6. Diese Unternehmen sind auch Lizenznehmer von Ecovative.

Pilz-Magier

Der Rohstoff Pilzmyzel scheint seine magische Kraft besonders auf krea-tive, innovative und engagierte Menschen auszuüben. Ein solcher ist der britische Ingenieur Ehab Sayed, der in seiner Master-Arbeit an der Universität die britischen Abfallströme untersuchte. Sayed war eigenem Bekunden zufolge schockiert, wie viele der nicht recycelbaren Abfälle aus der Bauindustrie stammen. Auf der Suche nach alternativen, recyclingfähigen Baumaterialien stieß er unweigerlich auf Pilzmyzel. Er gründete die Firma
Biohm 
7, die heute unter anderem recyclingfähige Dämm-Platten aus Myzel herstellt. Sie dämpfen Schall, isolieren Wärme und sind ohne jegliche Additive feuerfest. Das alles tun sie ohne Umweltbelastung, quasi aus sich selbst heraus. Die Schalldämmung ist übrigens besonders gut bei 1 000 Hertz, dem Peak von Verkehrslärm.

Biohm arbeitet offenbar nach dem „Open Source“-Prinzip, das heißt, alle technischen Prozesse zur Erstellung von Myzel-Produkten sind öffentlich zugänglich. Ehab hofft, dadurch die gesamte Bauindustrie zu revolutionieren. Universitäten, Politik, Industrie und Allgemeinheit sollen laut Ehab an einem Strang ziehen. Nur über Kooperation seien die gravierenden Umweltprobleme lösbar. So wird beispielsweise angegeben, wie der Prozess der Myzel-Wachstumsphase gestartet wird. Bewährt hat sich, ein Stückchen Pilz in einer Petrischale mit einem Galactose-Polymer wie Agar (ein Fischleim) zu geben. Dadurch wird eine kräftige Myzelbildung unmittelbar angeregt. Diese Mischung wird dann später in einer Form (ähnlich einer Kuchenform) mit den organischen Abfällen vermengt. Das Myzel zersetzt bzw. verdaut die organische Substanz und bildet, wie schon oben gezeigt, ein verdichtetes dreidimensionales Netzwerk, das äußerlich einem Schwamm ähnelt. Nach einigen Tagen bis Wochen erhält man ein organisches, formbares Komposit, das thermisch stabilisiert werden kann, ja sogar muss. Denn wird der Myzel-Prozess nicht unterbrochen, so entsteht am Ende – Humus. Thermische Behandlung oder erhöhter Druck dagegen tötet das Myzel ab und beendet das Wachstum. Man sieht aber, dass bis zum Ende nur lebendige Substanzen im Spiel sind.

Kreislauf

Pilze könnten schon bald Plastik in vielen Bereichen verdrängen. 

Perfekter Kreislauf

Biohm hat neben ökologischen auch soziale Ziele. In einer still gelegten Fabrik im englischen Watchet, einer ehemaligen kleinen Industriestadt im Niedergang, will das Unternehmen im Rahmen eines Sozialprojekts 3 000 Quadratmeter zertifizierte Dämmplatten/Monat produzieren. Das ist Material für circa 20 Häuser. Perfekter Kreislauf: Alte Platten sollen das Futter für neue werden! Denn die Käufer werden vertragsmäßig verpflichtet, die Platten nach dem Ende der Nutzung an Biohm zurückzugeben. Der gesamte Produktionsprozess soll die Energie ausschließlich aus erneuerbaren Energiequellen beziehen. Die Produktion sei damit CO2-negativ, das heißt es wird mehr CO2 gebunden als frei gesetzt. Ein Quadratmeter Panel bindet bis zu 1,7 Kilogramm CO2. Pro Monat will Biohm so sechs Tonnen CO2 einsparen, so viel, wie 3 000 Bäume während des Wachsens aufnehmen! Dieses Projekt hat international Aufsehen erregt und dazu geführt dass Biohm in anderen Ländern wie die Niederlande und Australien ähnliche Projekte durchführen wird.

Hunger auf Plastik

Pilze können Plastik nicht nur ersetzen, sie können einige Kunststoffe sogar verzehren! Daran wird zumindest geforscht. Kein Wunder eigentlich, gelten Pilze doch als die „Chemiker“ in der Natur. Eine englische Supermarktkette hat Biohm diesbezüglich gesponsert. In einem Labor gelang es, ein Myzelium zu züchten, das Plastik innerhalb von zwei Monaten vertilgt. Das Genom der Pilze ist viel flexibler als das von Säugetieren. Wenn man den Pilzen nur Plastik als Nahrung anbietet (also keine Glukose,
Lignin oder Zellulose), so evolvieren sie viel schneller, um sich zu adaptieren und letztlich das Plastik zu konsumieren. Biochemiker nennen diese Vorgehensweise „gerichtete Evolution“ (directed evolution). Denkbar wäre sogar, Pilze zu züchten, die toxische Nebenprodukte in nützliches, natürliches Material umwandeln (s. Kasten).

Plastik-verdauende Pilze interessiert auch Forscher an der Yale Universität. Sie untersuchten, ob Pilze Polyester (PUR) umwandeln können und fanden einige Pilze aus der Familie der Pestalotiopsis microspora (ein unauffälliger hellbrauner Pilz), die PUR in zwei Wochen abbauen konnten.8 Heraus kam ein organisches Material in fester und flüssiger Suspension. Der Pilz kann sogar ohne Sauerstoff leben, also Plastik in anaerober Umgebung zersetzen. Das macht ihn zum idealen Kandidaten für Müllkippen, die trocken und sauerstoffarm sind. Sogar Gewässer von Plastikpartikeln durch den Einsatz von Pestalotiopsis microspora zu reinigen wird denkbar. An der Uni Utrecht (Niederlande) wurde gezeigt, dass bestimmte Speise-Pilzarten (Auster) auch nach dem Konsum von Plastik noch genießbar sind. 9 Dadurch wird ein Recycling-System für daheim denkbar! Das Pilzmyzel ist bei alldem auch noch anti-mikrobiotisch, das heißt, es tötet schädliche Mikroben ab.

In Europa ist das Pilzland Nr. 1 sicher die Niederlande. Grundlagenforschung zum Pilzwachstum findet u. a. an der schon erwähnten Universität Utrecht statt. Der Mikrobiologe Prof. Han Wös-ten erläutert, wie Kompositmaterial entsteht, wenn Pilzmyzel durch Pulpe wächst. Das Myzel zersetzt die Pulpe, wächst gleichzeitig um die Reste herum und bindet diese zusammen. Heraus kommt so etwas wie stabilisierte Pulpe. Die Forscher wollen Pilz-Alternativen für alle Plastikarten erhalten. Derselbe Pilz kann unter verschiedenen Bedingungen unterschiedliche Material-Eigenschaften zeigen, etwa gummiartig, lederig oder wie Kunststoff, Kork, Holz, hart oder weich, porös oder massiv. Die Forscher glauben, dass Pilze schon bald Plastik aus vielen Bereichen verdrängen könnten. Sie präsentieren einen organischen Hocker, der aus einem 3D-Printer gedruckt wurde. Die Druckkartuschen des Printers enthalten Biopolymere. Zusammen „geleimt“ wird der Hocker durch Pilzmyzel.

Die wohl unglaublichste Eigenschaft von Pilzen ist, dass sie sogar sogar Radioaktivität aufnehmen und umwandeln können! Das wurde am Tschernobyl-Reaktor beobachtet, wo Pilze verstrahltes Graphit und weitere Rückstände aus dem Reaktorkern
aufnahmen und unschädlich machten. Der Pilz breitete sich geradezu in Richtung der am schlimmsten verstrahlten Umgebung aus, eine Art Phototropie für Radioaktivität.
Es sind die dunklen Melanin-Pigmente, die radioaktives Material absorbieren und in Energie umwandeln. Wissenschaftler hoffen, daraus biomimetische Substanzen gewinnen zu können, die radioaktive Abfälle in erneuerbare Energieträger verwandeln.
Einige glauben gar, dass solche Pilze der Schlüssel für den Planeten sind, sich von Grund auf zu reinigen. Pilze könnten nicht nur das Abfallproblem lösen helfen, sondern auch Nahrungsknappheit beseitigen.

(Quelle: www.youtube.com/watch?v=cRoIWa8RB1A)

Myzel

Mushroom Paradise

In den Niederlanden kann man die Pilzausstellung „Mushroom paradise“ besuchen. Sie dient dem Zweck, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren für die Möglichkeit, aus Pilzmyzel einen Teil unserer Zukunft wachsen zu lassen und die gestalterischen Potenziale aufzuzeigen. Es gibt auch kuriose Versuche, Schuhe aus Myzel wachsen zu lassen.

Der holländische Architekt David Benjamin sieht ein großes Potenzial für Pilze als ökologisches Baumaterial. Er initiierte 2014 den Bau eines 40 Fuß hohen Turms aus 10 000 Myzel-Steinen in New York. Diese „Backsteine“ hatte man in Ziegelstein-Formen hineinwachsen lassen. Nachdem sie die richtige Konsistenz hatten, wurden sie hinausgepresst und in einem Ofen einige Stunden bei niedriger Temperatur gebacken. Paris erlebte ein ähnliches Turmprojekt aus Myzel. Doch hier wurden die Myzel-Bauelemente nicht abgetötet, sondern das Gebäude wuchs später noch weiter zusammen. Ein Haus das weiter wächst… Das waren natürlich Schaufenster-Projekte, um Aufsehen zu erregen. Größere Gebäude, in denen auch die tragenden Strukturen aus Myzel-Steinen wären, sind allerdings noch nicht möglich. Während Beton Drücke bis zu 10 000 Pound/Quadratzoll aushält, erreichen Pilze-Ziegel nur bis zu 30 Pound/Quadratzoll. Aber vielleicht lernt das Pilzmyzel ja noch dazu, denn offensichtlich ist es lernfähig …

Während der Dutch Design Weeks 2019 entstand der Growing Pavilion10, ein Gebäude aus Holz, Myzel, Agrarabfällen, Binse und Baumwolle als „ikonische Ode an Bio-Baumaterialien“. Eine Kopie wurde auch auf der Floriade 2022 in Amsterdam errichtet.

Zeichen setzen

Es ist sicher viel Symbolisches, Ikonisches in den zahlreichen Myzel-Projekten. Man möchte das Myzel in den Fokus rücken, Zeichen setzen. So bietet der Sportartikelhersteller Adidas seit zwei Jahren den Sportschuh „Stan Smith Mylo“ an, der aus Myzel und Naturkautschuk besteht. Der Schuh ist das Produkt einer Kooperation mit dem US-amerikanischen Biotechnologie-Unternehmen Bolt Thread und soll ein Zeichen dafür setzen, Plastikabfälle zu vermeiden. Auch der Sportbekleidungshersteller Lululemon und die französische Luxusmarke Hermés wollen bald Imitate aus Pilzmyzel anbieten.

Ein weiteres Feld für Pilz-Anwendungen sind Wearables, also Textilien mit integrierter IT-Technik oder eine Smartwatch. Sie zeichnen über Sensoren die Aktivität und physiologische Daten des Anwenders auf, prozessieren sie und leiten Signale an ein Smartphone oder Tablet weiter. Dabei wird die elektromagnetische Eigenschaft des Pilz-Materials genutzt, um elektrische Schaltkreise zu realisieren. In anderen Worten: Fungi prozessieren elektrische bzw. digitale Informationen. 11

Das letzte Wort soll die Biotechnologin und bildende Künstlerin Vera Meyer haben, die auch als Pilzprophetin bekannt wurde. Sie sieht uns in Zukunft in enger Symbiose mit dem Reich der Pilze und sagt: „Wir denken, dass unsere Zukunft des Lebens sein wird, dass wir in Pilzen wohnen, uns in Pilze kleiden, nicht nur Pilze essen oder Getränke aus Pilzen zu uns nehmen und wir sehen diese Materialität, die sich daraus ergibt und diese Nutzbarkeit als Möglichkeit, tatsächlich wegzukommen vom Erdöl.“12

Autor

Detlef Scholz
Dipl.-Phys.

studierte Physik in Münster. Danach siedelte er nach München über und arbeitete dort als Ingenieur. Seit Mitte der neunziger Jahre ist er als Fachjournalist tätig.

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