Mythos, mythologische Wesen und Seelenaufgabe

Ahnenmedizin

Für die Ahnenmedizin hat die Heilpraktikerin mythologische Wesen auf ihre Geschichten und die daraus vermuteten Konflikte untersucht und in die Seelenhomöopathie integriert. Auf diese Weise lassen sich bildhaft Konflikte fassbar und Probleme artikulierbar machen.

Von Kim Fohlenstein (Hp.), Pouldreuzic, Bretagne, Frankreich

Es war so gegen Mittag und es war ein wenig ruhig am Messestand, als Frau Schneider mit einer eben gezogenen Karte mich fragend anblickte. Ich grinste fragend zurück. „Das ist jetzt sehr spannend“, sagte sie. „Ich habe eben das Einhorn gezogen – ich interessiere mich sehr für Einhörner. Aber sagen Sie bitte, wie kommen Sie auf all diese Worte auf der Karte? Sie berühren mich, aber ich bin irritiert. Was haben sie denn um alles in der Welt mit einem Einhorn zu tun?“ Ich grinste jetzt noch etwas breiter und genoss den Moment, denn normalerweise zieht man meine Karten nicht einfach so und auch nicht nur eine Karte, aber ich liebte diese kleinen gezielten Herausforderungen des spontanen Kontakts – auf der Zwischenwelt einer Messe. Ich denke auch, es gibt Konflikte, die überhaupt nur so überraschend, formlos und „im Dazwischen“ berührt werden können – eben so, wie wenn einem aus Versehen im Wald ein Einhorn begegnen würde.
Ich fragte Frau Schneider, ob sie sich vor dem Ziehen der Karte eine Frage gestellt hätte, weil es sich grundsätzlich um Konfliktkarten handle? „Nein, nein – ich fand nur die Rückseite so schön und war gespannt, was hinter dieser Tür im Baum wohl auf mich warten würde?“ Sie schüttelte den Kopf und wiederholte sich: „Wie kommen Sie nur auf diese Worte? Und wie kommen Sie überhaupt auf Einhörner – ich dachte Sie machen Körpertherapie?“

Was für eine köstliche Vorlage, um einen kleinen Vortrag zu halten und meine Geschichte zu erzählen. Aber ich hielt mich nach zwei kleinen Sätzen flink zurück, weil Frau Schneider durch das Ziehen der Karte schon längst mit sich beschäftigt war, und ich ihr diesen Moment nicht mit Theo-
rie zerreden wollte. Stattdessen zeigte ich auf die neun Kartenstapel vor ihr und erklärte ihr kurz: „Das sind neun Lebensfelder. Alle diese Lebensfelder sind ein Teil von Ihnen und haben aber auch Bezüge zu Körperstrukturen im Hier und Jetzt sowie zu alten Ahnenzeiten und Seelenas-
pekten. Ohne zu wissen, was jetzt wofür steht, wählen Sie sich doch bitte ein Feld aus diesen neun Feldern aus, auf das Sie ihre gezogene Einhorn-Karte spontan legen würden.“
Ich hatte währenddessen leere weiße Karten oben auf die jeweiligen Kartenstapel gelegt, damit sie nicht von den ausdrucksstarken Bildern zu sehr beeinflusst wurde. Die Karten hatte ich aufgeteilt in neun Felder, drei Ebenen und drei Achsen. Frau Schneider legte ihr Einhorn auf die linke Achse in die Mitte. Zack! – das ging schnell. Jetzt begannen wir zunächst über Einhörner zu reden.

Dieses edelste aller Fabeltiere bezeugt also die Unsterblichkeit.

Monoceros – Das Einhorn

Einhörner begleiten die Menschheit seit Jahrtausenden in allen Epochen und vielen Kulturen. Über ihre Gestalt gibt es viele unterschiedliche Berichte. Alte Quellen beschreiben eher ziegenähnliche Merkmale, neuerdings hat sich die Pferdegestalt samt Horn eingebürgert. Allen Berichten gemeinsam ist seine Beschreibung als edles und unberührbares Wesen. In China heißen Einhörner Qilin, was soviel bedeutet wie Yin-Yang und auf ein ausgeglichenes hermaphroditisches Zwitterwesen hindeutet. Tatsächlich wird – außer in neueren Produktionen – niemals von Einhornpaaren, Genealogien oder Jungtieren berichtet. Einhörner leben allein in dichtem Wald, scheuen die Gemeinschaft mit jedem anderen Wesen, sorgen für das Wohlergehen der sie umgebenden Vegetation und lassen sich maximal von einer keuschen Jungfrau dazu verleiten, sich zu zeigen. Man sagt aber, dass sie sich gern im spiegelnden Wasser eines Teiches betrachten. Ihr Horn entspringt der Mitte der Stirn und ist gedreht. Das Blut des Einhorns verleiht Unsterblichkeit – jedoch ist es aufgeladen mit den Gefühlen der letzten Lebenssekunden. Wurde das Einhorn also getötet, wird diese Unsterblichkeit verflucht sein. Das gemahlene Pulver seines Horns reinigt und belebt alles, was mit ihm in Kontakt kommt: Wasser oder Körperstrukturen. Das im Mittelalter gehandelte, hoch geschätzte Horn gehörte dem Narwal, ein auch heute noch im Polarmeer lebender Walfisch. Soweit die Überlieferungen.
Dieses edelste aller Fabeltiere bezeugt also die Unsterblichkeit. Es hat durch sein Horn einen starken, unzerbrechlichen Kanal aus seinem „dritten Auge“, der spirituellen Öffnung in der Stirn für die Drüsen der Verbindung: Hypophyse, Epiphyse, Hypothalamus. Sein einziges Interesse gilt der Befruchtung mit dem Heiligen Geist, mit einer Kraft, die den Menschen erneuern und in die Unsterblichkeit führen kann. Das Symbolbild für diesen Vorgang ist die Jungfrau, in deren Schoß sich der Kopf des Einhorns legt. Die Jungfrau ist stellvertretend für eine menschliche Seele, die „rein“ ist, also frei von Gier, Wollust und den anderen sogenannten Todsünden.
Diese Sünden sind tödlich in dem Sinn, dass die Sphäre des Einhorns, der eindeutig ausgerichteten Verbindung in die Seelenheimat, hier nicht mehr Platz nehmen kann.
Wer sich noch in der Welt der Leidenschaften bewegt, wird sicher auch den Tod erleben, früher oder später naturgemäß. Mit dem Einhorn werden wir daran erinnert, dass es diese „andere“ Welt gibt und es möglich ist, mit ihr Verbindung aufzunehmen. Das Schlimste, das einem Einhorn passieren könnte, wäre der Verlust der Verbindung in die spirituelle Welt. Diese Welt und die Verbindung zu ihr ist sein einziger Lebensinhalt.

Seelenebene

Das Einhorn in der Ahnenmedizin

Und damit waren Frau Schneider und ich nun bei den Konflikten angelangt. Wenn ein Einhorn nun aber in einen Konflikt geraten sollte, würde sich dieser adäquat zu seinen Fähigkeiten äußern, oder? Frau Schneider nickte verständlich und begann von sich aus den Text auf der Karte, die sie wieder in ihrer Hand hielt, laut vorzulesen:
• Immer auf der Suche oder Flucht
• Nicht enden wollende Sehnsucht
• Job/Partnerschaft/Heim, nichts ist richtig
• Fehlende Essenz – Ziellosigkeit –Einsamkeit
• Fühlt sich gelangweilt – nichts ist wirklich wichtig
• Großer Bewegungsdrang – nur wohin? Wozu?
• Ist wie in einer Zwischenwelt gefangen
• Ist im Schock durch Verlust von Heimat/Gemeinschaft
Frau Schneider: „So könnten also die Gefühle eines Einhorns aussehen, das in einen größeren Konflikt gerät. Klar – das verstehe ich jetzt.“ Ich nickte ihr zu und zeigte dabei bereits auf das Lebensfeld, das Frau Schneider für ihr Einhorn ausgewählt hatte. „Ja, aber nun zu Ihnen. Sie haben ja die Karte gezogen und dann hier platziert. Dieses Lebensfeld steht einerseits für Ihre eigene innere Führungskraft und andererseits für Ihr männliches Ahnenfeld. Man könnte sagen, es zeigt Konflikte aus Ihrem männlichen Ahnenfeld, die gerade jetzt in ihrer Führungskraft Auswirkungen zeigen und noch nicht verarbeitet sind. Auf der körperlichen Ebene ist dieses Lebensfeld dem Nervensystem zugeordnet. Hat denn vielleicht jemand aus Ihrer männlichen Ahnenreihe sein Haus, sein Land oder seine Gemeinschaft verloren?“ fragte ich. Es wurde augenblicklich sehr eigenartig still. So eine Art still und laut zugleich. Frau Schneider wischte sich ganz langsam und anmutig eine kleine Träne vom Gesicht. Es handelte sich eindeutig nicht um quälende Tränenströme, sondern um die Art Tränen, die eben ganz leise auftreten, wenn sich etwas lösen darf.
Durch meine Frage landeten blitzschnell all unsere gesprochenen Worte über Einhörner und Gefühle an der richtigen Stelle in ihr. Es klingt vielleicht banal, aber die Zuordnung tiefer konflikt-
hafter Gefühle ist ein wesentlicher Schritt, um wie in dem Beispiel von Frau Schneider der eigenen Führungskraft wieder Handlungsfreiheit gewähren zu können.
Frau Schneiders Vater musste im Alter von acht Jahren mit seinem Vater wegen des Krieges im Land fliehen. Ihr Großvater besaß wohl ein großes Gestüt mit einer richtig angesehenen Pferdezucht und entsprechend großen Ländereien dazu. Frau Schneider kennt die Geschichte nur von ihrem Vater. Fotos dazu existieren nicht mehr. In Deutschland baute ihr Großvater eine Werkzeugfirma auf, die ihr Vater nach dem Tod des Großvaters weiterführte und die vor circa zwei Jahren ihr überschrieben wurde. Sie mochte und konnte diese Arbeit nicht wirklich. Seitdem leidet sie unter massiven Schlafstörungen (Zuordnung zum Nervensystem!) Sie erklärte mir, dass sie sich wie in einem Fluch gefangen fühle, sich nicht bewegen könne. Sie hatte ihren alten Vater im Nacken, der sie immer öfter daran erinnerte, dass er sich doch eigentlich einen männlichen Nachkommen gewünscht hatte, der sein Geschäft anständig weiterführen würde.
„Ich fühle mich, wie auf dieser Karte! Ziellos und einsam! Und ich habe entsetzliche Angst, die Liebe meines Vaters zu verlieren. Aber wer weiß schon, ob ich sie je hatte? Ich denke, ich verliere einfach alles, wenn ich mich authentisch geben würde. Aber vielleicht verste-
he ich gerade eben jetzt, dass das ganz alte Gefühle des Verlustes sind. Wenn sich die Sehnsucht nicht mehr nach hinten bindet, wo alles verloren gegangen ist, könnte für mich in meinem Leben ja doch noch was entstehen. Darf ich bitte noch eine Karte ziehen?“ Diese Frage war fast rhetorisch, weil sie eigentlich schon dabei war. „Ich will noch eine aus dem gleichen Stapel und die soll hier hin.“ Zack! – das ging jetzt noch schneller. Sie legte sie auf die rechte Achse und wieder in die Mitte. Sie hatte den Faun gezogen und bat mich ihr direkt etwas über ihn zu erzählen.

Einhorn
Faun

Er hat die Pan-Flöte erfunden, auf der er Stunden um Stunden spielte, um seinen Seelenaufruhr zu beruhigen.

Aus dem Seelenleben eines Fauns

Der Faun (auch als Pan bekannt) wurde von seiner Mutter kurz nach der Geburt aus dem Olymp verstoßen, weil er halb als Mensch und halb als Ziege geboren wurde. Er wurde auf der Erde ausgesetzt. Wie sollte er sich anders fühlen als heimatlos und abgelehnt? Und wir können auch ganz leicht verstehen, dass er sich selbst die Schuld gab, weil es ja an seinem Aussehen lag.
Er hat die Pan-Flöte erfunden, auf der er Stunden um Stunden spielte, um seinen Seelenaufruhr zu beruhigen. Wenn er es manchmal wagte, seinen wahren Gefühlen zu begegnen, geriet er in Aufruhr – raste brüllend durch den Wald und erschreckte Menschen und Tiere. Davon leitet sich der Begriff „Panik“ ab. Er konnte dabei die anderen Wesen beobachten, wie sie mit dem Schrecken umgingen. Das war es, was seine Seele zutiefst beschäftigte – ein Schrecken, der für ihn eigentlich zu groß war. Ein Schrecken, der Mutter und Kind trennte und gleichzeitig auf der Seelenebene auf ewig verband.
Ich denke, dass sich viele Menschen von den Gefühlen des Fauns berühren lassen können.

Diesen Berührungspunkt nenne ich Seelenhomöopathie

Das wahre Gefühl ist so weit draußen, dass es eben kaum noch einen Kontakt zur Stofflichkeit gibt. Es ist so sehr verdünnt und durch die Zeit potenziert, dass man ihm einerseits seine Existenz absprechen könnte und andererseits einen zentralen Schlüssel in der Hand hält, um den sich das gesamte Leben zu drehen scheint. Frau Schneider blickte mich forsch an: „Das ist jetzt das weibliche Ahnenfeld – richtig? Das dachte ich mir. Meine Mutter fühlte sich so gnadenlos unfähig, weil sie nicht in der Lage war, meinem Vater einen Jungen zu schenken.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wissen Sie – ich weiß das ja alles schon mein Leben lang, aber irgendetwas ist gerade anders. Ich merke, ich bin etwas ärgerlich. Und das ist sehr besonders, weil ich eigentlich zu höflich bin, um ärgerlich zu sein. So etwas gibt es bei mir einfach nicht.“ Sie rückte näher und sah mich eindringlich an: „Ich könnte mich vielleicht daran gewöhnen.“ Und dann lachte sie schallend. „Kommen Sie, wir machen jetzt mal einen Termin aus – jetzt räume ich einfach mal auf. Aber sagen Sie mir bitte eben noch, wie sie ausgerechnet auf Einhörner gekommen sind?“
Naja – vor etwa zehn Jahren hörte ich ganz nebenbei, wie sich ein paar Homöopathie-Schüler in der Pause über einen Flyer einer Einhorn-Veranstaltung lustig machten. Ich fragte mich innerlich spontan, wie sich denn ein Einhorn jetzt wohl fühlt, wenn es „weniger Wert“ sein soll und aus einer Gruppe ausgeschlossen wurde, die sich auf akribische Art und Weise damit auseinandersetzt, alle möglichen Stoffe dieser Erde als Arzneimittel zu begreifen? Und ich fragte mich, wie sich Hahnemann wohl fühlte als er versuchte, Arzneien einer sowohl körperlichen als auch emotionalen Wirkung gleichzeitig zuzuschreiben? Klar könnte man sagen, ein Einhorn existiert ja nicht. Aber jeder kennt es und seine Sagen wirken ja irgendwie auf uns. Uff – ich denke, dass war aus Versehen der Anfang. Ich hatte mich bis dahin eigentlich nicht wirklich mit Mythologie beschäftigt. In meinen Kartensets wollte ich ja vor allem neben Pflanzen und Metallen, Körperstrukturen wie Hirnnerven und Hormondrüsen eine Sprache verleihen. Eben Dinge, bei denen es mir leicht fällt, weil sie zu meiner täglichen Arbeit gehörten. Aber die Einhörner ließen nicht locker. Und so stellte ich mich der Herausforderung, die Gefühlswelten der mythologischen Wesen und ihre Wirkung auf unseren Alltag zu untersuchen. „Sie hätten also auch einen Hirnnerv oder eine Orchidee ziehen können.“ „Tja – das nennt man wohl Zufall oder Schicksal“, antwortete Frau Schneider.
Frau Schneider war anschließend einige Male bei mir und räumte tatsächlich auf. Sie hat die Firma ihres Vaters einfach verkauft, obwohl er immer noch lebt. Sie ist nach Griechenland gezogen und hat dort eine große Notrettungsstation und ein Altenheim für Tiere eröffnet. Sie ist völlig lebendig und eine sehr beliebte Chefin bei Mensch und Tier. Und nachts ganz kann sie glücklich erschöpft durchschlafen. Einfach, weil sich alles sortieren konnte.

Autorin

Kim Fohlenstein
Kim Fohlenstein
(Hp.)

Kim Fohlenstein ist Heilpraktikerin und Autorin. Sie leitet Fortbildungsgruppen zum Thema Ahnenmedizin, in denen sie alte Heilkunst mit fundiertem medizinischen Wissen verbindet.

Bildnachweis Einstiegsbild: © umnola/Adobe Stock