Aufgabe des Gesichtslesers ist Ratgeber zu sein
So läuft beispielsweise eine Verbindung. Ich habe jetzt ein sehr simples Beispiel genommen, um am Ende – und jetzt kommt das Wichtige, den vierten Schritt zu gehen, nämlich Rat zu geben. Die Aufgabe des Gesichtslesers ist, Rat zu geben und nicht das Gesicht zu lesen. Das Gesicht zu lesen heißt nur: Ich stelle etwas fest. Und was mache ich jetzt damit? Eine Erkenntnis ohne eine Folge aus der Erkenntnis, ist verschenkte Mühe, würde ich fast sagen. Mein Job ist es, diese Abfolge aus Merkmalen zu finden, die für ein Thema stehen und daraus Rat zu geben. So verifiziert sich immer mehr ein Bild. Deshalb ist es auch im Gesichtslesen wichtig, viele Informationen zu bekommen, damit man wirklich ein Bild von dem Menschen hat. Ich möchte noch hinzufügen, dass es völliger Unsinn ist, wenn Gesichtsleser sagen: „Du hast diese Nase und deshalb bist du so.“
r&z: Also geht es darum, Merkmale zu lesen und diese zu interpretieren?
E. St.: Genau. Aber die Merkmale sind halt statisch, es ist wie wenn man ein Foto liest. Man weiß jetzt aber nicht, wie sich dieser Mensch im Gesicht mit seinen 43 Muskeln bewegt. Dazu brauche ich die Mimik, die Stimme und auch Gesten, Alltagsgesten wie jemand eine Kaffeetasse hält oder im Fahrstuhl den Knopf drückt. Darüber könnte ich mir mehr Infos über diesen Menschen einholen, um ihm dann einen besseren Rat zu geben.
Mögliche Themen
r&z: Man kann also allerhand aus dem Gesicht lesen. Was sind denn typische Themen?
E. St.: Ich gebe dir die Überschriften, die ich Europäern gebe, weil es für sie im Gegensatz zu den Chinesen nicht selbstverständlich ist, mit einem Anliegen oder einem klar definierten Thema, zum Gesichtsleser zu kommen.
Eine Überschrift könnte der Bereich Persönlichkeit, Potenziale, Talente sein. „Wer bin ich wirklich und was kann ich damit anstellen?“
Ein zweiter Bereich könnte das Thema Beruf und Karriere sein. „Ich übe einen Beruf aus, der mich nicht erfüllt. Was sagt dir mein Gesicht zu diesem Thema?“
Ein dritter Bereich könnte dann die Lebensaufgabe und die Berufung sein. „Ich übe meinen Beruf aus, der okay ist, aber ich verspüre immer so ein Drängen in mir. Ich will etwas Besonderes tun oder etwas, was mir besser zu Gesicht steht.“
Ein vierter Punkt könnte das Thema Liebe und Partnerschaft sein. „Ich bin mit meiner Frau seit 22 Jahren glücklich verheiratet, aber seit einem Jahr hängt der Haussegen schief. Ich kann Ihnen nicht sagen warum. Was kann man in meinem Gesicht dazu lesen? Hier ist auch noch ein Foto meiner Frau.“
Außerdem kann man ein Gesicht zu den Themen Gesundheit und Ernährung lesen.
Darüber hinaus gibt es aber auch eher mystischere Themen wie das Thema Schicksal. Wobei Gesichtslesen jetzt nicht so geeignet ist, um in die Glaskugel zu schauen, sondern das Gesicht würde man eher im Pfad des Lebens lesen. Im Erkennen der Persönlichkeit zieht man Rückschlüsse, wie der Mensch weiter durch sein Leben schreitet, wenn er so handelt, wie er gerade handelt.
Ferner gibt es ganz andere Anwendungsgebiete. Zum Beispiel wende ich Gesichtslesen beim Profiling für ein Unternehmen an, die einen Mitarbeiter für eine bestimmte Position suchen. Wie müsste der Richtige aussehen? Manchmal werde ich zu Vorstellungsgesprächen oder in der Vorbereitung dessen hinzugezogen.
Man kann es gut nutzen zu Teambuilding-Maßnahmen, wenn sich beispielsweise die Mitarbeiter einer Abteilung untereinander nicht verstehen. Dann kann diese Methode dazu beitragen, Verständnis füreinander zu entwickeln und zu schauen, wer welche Stärken hat und wie es besser funktionieren könnte.
Ich nutze es auch, um Lügen aufzudecken, wie beispielsweise in Verhören, um zu sehen, ob jemand die Wahrheit sagt oder nicht.
Oft werde ich zu Vertragsverhandlungen eingeladen, damit ich mir die Gegenseite anschaue. Ist das alles stimmig, was sie von sich gibt? Manchmal bekomme ich den Auftrag, eine Person in der Runde im Auge zu behalten, weil sie beispielsweise dafür bekannt ist, immer ein wenig über die Stränge zu schlagen. Da soll ich schauen, ob es von der Person strategisch ist oder ob sie das nur vortäuscht.
In den USA habe ich Kunden, die es für was ganz Tolles nutzen, nämlich für die Selbstentwicklung und Selbstverwirklichung und dafür, sich selbst besser zu verstehen – im Privatleben und in der Firma. Ich begleite sie in ihrer Arbeitswelt und in ihrem Privatleben und versuche so objektiv wie möglich zu beurteilen, ob dieser Mensch gemäß seiner Persönlichkeit lebt oder wo er sich selbst im Weg stehen könnte.
Charakter und Persönlichkeit lesen
r&z: Hast du einen Tipp, an welchen Merkmalen man einen Menschen erkennt, wie der tickt.
E. St.: Zunächst einmal muss man unterscheiden, was an diesem Menschen fundamental ist, also seine Persönlichkeit und welchen Charakter dieser Mensch entwickelt hat. Charakter und Persönlichkeit gehen nicht immer Hand in Hand, denn sonst wären wir alle authentisch und das sind wir nicht.
Wenn ich den Charakter lesen will, lese ich eher die Mimik eines Menschen, die sich situativ verändert. Die Persönlichkeitsstruktur würde ich dagegen eher durch feststehende Merkmale lesen.
Wenn ich wissen will, wie jemand tickt, dann bedeutet das nicht, wie jemand grundsätzlich in seiner Persönlichkeit ist, sondern wie sich jemand verhält, welchen Habitus er hat. Da würde ich eher auf die Mimik achten. Sie kann im Detail ein wenig vielgestaltiger sein.
Der Dreiecksblick
r&z: Ich glaube, in deinem Buch nennst du die Kurzform des Gesichtslesens den Dreiecksblick. Was kann man sich darunter vorstellen?
E. St.: Wenn man so möchte ist es der Blick, der uns verbindet und überall auf der Welt angewandt wird. Der Dreiecksblick ist die Verbindung von den Augen mit dem Mund. Da die Augen eine direkte Verbindung zum Gehirn haben, drücken sie die Gefühls- und Gedankenwelt eines Menschen aus. Die Augen sind mit dem Mund die wichtigsten Merkmale. Wie bei einem Smiley braucht es nur Augen und Mund, um alles ausdrücken zu können. Es braucht keine Nase, keine Ohren und keine Haare.
So erfolgt auch das schnelle Lesen immer über Auge und Mund. Man könnte zum Beispiel erst einmal schauen, ob zwischen Augen und Mund eine Harmonie herrscht und sie harmonisch miteinander agieren. Bewegen sich beispielsweise die Augen wie wild, dann bedeutet das, dass jemand ganz viele Informationen aufnimmt und eine gewisse Rastlosigkeit und Unruhe hat. Mit einem starren Mund, der sich kaum öffnet, heißt das, dass das, was er aufnimmt, nicht herauslässt, nicht verarbeitet und es für sich behält. Es handelt sich dann gegebenenfalls um einen überstimulierten, unruhigen Menschen, der sich immer wieder mit Informationen reizüberflutet, aber die Verarbeitung nicht tatsächlich von sich gibt. Das hat natürlich entsprechende Auswirkungen auf die Persönlichkeit.
Bei der umgekehrten Variante: Wenn die Augen starr sind mit einem sich schnell bewegenden Mund, dann ist es jemand, der sich sehr schnell Meinungen bildet, der sich eher präsentiert oder eine Meinung repräsentiert. Es ist niemand, der vieles ansammeln würde, um es wiederzugeben.
Ein guter erster Einstieg ist also darauf zu achten, was nicht in Harmonie ist, auf die kleinen Widersprüche zu schauen, die einen Menschen ausmachen.