Die mystische Schau der Kelten auf die Zeit

Der keltische Jahreskreis

Die Kelten, deren Leben an die Zyklen der Natur gebunden war, teilten die Zeit in unterschiedliche Perioden ein. Pflanzen, Tiere, Sonne und der nächtliche Sternenhimmel brachten genaue Zeichen des Zeitenwandels und korrespondierten mit den Phasen des Lebens. Ein Augenmerk auf das spirituelle Verständnis der Kelten zu werfen lohnt, denn sie können auch im weiteren Sinne in Zeiten des Wandels zu hilfreichen Einsichten und erweitertem Bewusstsein führen.

Von Wolf-Dieter Storl, Isny im Allgäu

Ohne den Wandel der Sonne und des Mondes durch den Tierkreis, ohne die Jahreszeiten lässt sich die Pflanzenwelt nicht verstehen. Die Vegetation ist Ausdruck des in ständiger Wandlung begriffenen kosmischen und terres-
trischen Kräftespiels. Die sichtbaren Pflanzen sind „Zeitenleiber” transsinnlicher pflanzlicher Archetypen, sie wachsen und wandeln sich im Einklang mit dem Kreislauf des Jahres. Wenn wir die keltische Pflanzenkunde verstehen wollen, müssen wir den keltischen Jahreskreis verstehen und auch die Gottheiten, die sich den Kelten darin offenbarten.

Die keltische Geistesart

Um die keltische Pflanzenkunde und den Baumkalender richtig zu verstehen, müssen wir die Brille unseres eigenen Weltbildes vorübergehend ablegen. Als Erben des rigiden, kategorisierenden Denkens der klassischen Antike, der abstrakten Spitzfindigkeit der mittelalterlichen Scholastik und des wissenschaftlichen Materialismus der Aufklärung sind wir es gewohnt, in festen, einander ausschließenden Kategorien zu denken. Die keltische Geistesart ist anders, sie ist beweglicher, flüssiger, „ätherischer” und lässt sich nicht in festgeschriebenen Dogmen ausdrücken. Keltische Religion und Naturerkenntnis ist in das unmittelbare Naturgeschehen eingebettet und beruht auf mystischer Schau, auf Ekstasefähigkeit, nicht auf einer „heiligen Schrift”. Es gab ebenso wenig eine Kirche, die die „wahre Lehre” verwaltete, wie es eine übergreifende Staatsorganisation gab. Diese Ungeeintheit war auch der Grund, warum es den Kriegern der locker zusammengefassten Stammeskonföderation unter Vercingetorix nicht gelang, die disziplinierten römischen Legionen zu besiegen. Ähnlich der hinduistischen Spiritualität, die sich aus einer Vielzahl eigenständiger lokaler Kulte zusammensetzt und weder Papst noch Oberhirten kennt, blieb die keltische „Religion” dezentralisiert. Sie schöpfte ihren Inhalt aus den umliegenden Wäldern, Bergen, Wiesen und Fel-
dern. Die Weltmitte, der Weltenberg, der Weltenbaum, befand sich nicht an einem einzigen, definitiven Ort, von dem nur die Priester zu erzählen vermochten, nicht in einer fernen Stadt, einem Jerusalem oder Mekka, sondern in unmittelbarer, erlebbarer Nähe der Siedlung, im heiligen Hain, bei der Dorfquelle, auf dem Grabhügel (Sid) oder einem nahe gelegenen Fels. Jede Gegend hatte ihren heiligen Berg, ihren „Nabel der Welt”. Bis zur Zeit der Hexenverfolgung gab es noch in ganz Europa diese Berge – der Puy-de-Dôme in der Auvergne, der Brocken oder die vielen Blocksberge – wo im Mai, zu Mittsommer oder beim Augustvollmond die letzten heidnischen Naturfeste gefeiert wurden.

Es gab entsprechend viele keltische Gottheiten, denn alles – Baum, Berg, Fels, Fluss – war heilig, belebt und beseelt, und offenbarte sich dem inneren Auge als ansprechbarer Naturgeist, als Gottheit oder Göttin. Über tausend Götternamen sind bekannt, ohne dass man genau weiß, welche Funktion sie hatten. Sicherlich waren es noch viel mehr – ähnlich dem Hinduismus, der eine (mystische) Zahl von 333 000 000 Gottheiten kennt, jede davon ein Gesicht des einen Seins. Jeder Keltenstamm, praktisch jedes Dorf, hatte seinen eigenen Namen für den Donnerer, für den Erntegott, für die Göttermutter, für den Totengott, für die Sternengötter, für die Tier- und Pflanzengottheiten. Oft wurden sie nicht einmal mit ihren eigentlichen Namen angesprochen, aus Respekt vor der magischen Macht, die in einem solchen Namen liegt. Der Name beschwört. Den Donnerer nennt man lieber „den guten Alten”, die Totengöttin „die große Königin”. 

Allein bei den Inselkelten hatte die große Göttin Morrigan1, die sich als Nachtmahr auf die Brust der Schlafenden setzt oder als schwarzer Rabe krächzend über die Schlachtfelder kreist, viele Namen. Sie ist Babd (Rabe), Macha, Göttin der Kopfjäger („Mashas Mast” sind die Köpfe der Gefallenen), und Nemain (Panik), deren schreckliche Schreie auch den stärksten Krieger in den Wahnsinn treiben. Sie ist nicht nur Rabengöttin, sondern erscheint auch als einbeinige rote Mähre, als Wölfin, als Aal, als eine hornlose Kuh, als schöne rothaarige Frau, als einäugige Alte. Sie ist weder eindeutig eine blutrünstige Kriegsgöttin oder Walküre noch eindeutig die Verkörperung des weiblich Bösen. Als schöne junge Frau vereint sie sich mit dem Helden und schenkt ihm den Sieg. Erschöpften weckt sie als Kuh mit der Milch ihrer Euter die Lebensgeister.2 Auch wenn diese Göttin eine eigenständige Person darstellt, ist sie andererseits ein Aspekt der Göttermutter Ana oder Dana, die ihrerseits sich ständig wandelnde Erscheinungen annimmt. Mal ist sie die weiße Lichtjungfrau, mal die alte Vettel, mal die gütige Hausfrau, dann wieder die Braut des schwarzen Unterweltgottes, ein Berg, ein Fluss, ein Tier oder ein Baum.

Ebenso verhält es sich mit den anderen Göttern der Kelten. Überhaupt ist alles im Wandel. In dem vielschichtigen Universum, in dem das Alltagsbewusstsein nur eine von vielen Möglichkeiten der Wirklichkeit darstellt, ist nichts fixiert. Derartige Perspektiven übersteigen selbstverständlich den um logische Ordnung ringenden, „reduktionistischen” Verstand. Im Gegensatz zu den klar definierten Funktionen und Aspekten der griechischen und römischen Gottheiten, ganz zu schweigen von den Vorstellungen monotheistischer Stifterreligionen, halten sich die Geister und Götter der Kelten an keine vorgegebenen Kategorien, an keine eindeutigen Regeln. Das kann einen pedantischen Stubengelehrten verzweifeln lassen. Auch Julius Caesar, der imperiale Bezwinger der gallischen und helvetischen Kelten, verfehlte den Kern keltischer Spiritualität, als er versuchte die Keltengötter in das Schema des römischen Götterpantheons zu pressen. Man muss ein Schamane, ein Shaiva (ein Anhänger des Shiva-Kultes) oder eben ein ekstasefähiger, naturverbundener Druide sein, um die keltische Götterschau nachzuvollziehen. 

Das achtspeichige Rad im Jahreskreis

Das keltische Zeitverständnis

Ebenso verhält es sich mit dem keltischen Kalender. Sowenig es den keltischen Staat oder die keltische Religion gab, sowenig gab es den keltischen Kalender. In Coligny, im Departement Ain, Frankreich, wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts Fragmente eines druidischen Kalenders aus dem 1. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung gefunden, der in einem 19-jährlichen Zyklus den synodischen Rhythmus des Mondes mit dem Sonnenlauf in Einklang bringt. Aber es gab in der tausendjährigen Geschichte der Kelten auch viele andere Systeme der Zeiteinteilung.

Die Zeit der Kelten war dehnbar, sie konnte schnell vergehen oder lange weilen. Der Druide vermochte sie zu beschleunigen oder wie Mog Ruith, der den Sonnenaufgang anhielt, zu verzögern. Besonders in der Anderswelt, bei den Bewohnern der Hünengräber (Sid), gibt es keine feste Zeit; ein Tag und eine Nacht können ein Jahr, ein Jahrhundert oder eine noch längere Zeitspanne sein. Es wird erzählt, dass gelegentlich ein Wanderer, der spät am Abend durch den Wald ging, von den Elfen eingeladen wurde, mit ihnen eine Nacht zu feiern und zu tanzen. Wenn dann der Morgen kam, war in der Menschenwelt inzwischen schon ein ganzes Jahr vergangen oder gar eine ganze Generation gekommen und vergangen. Der Betroffene hatte es dann schwer, sich wieder zurechtzufinden.

Wir wissen, dass die Kelten wie die meisten naturverbundenen Völker die Zeit als Kreis empfanden und nicht wie wir als ein lineares Abticken von Zeit-Bits. Sie bestand aus Kreisen innerhalb von Kreisen. Innerhalb des Jahreskreises kreisen Monatskreise, darin wiederum die Tageskreise und Stundenkreise. Auch jeder Planet beschreibt seinen bestimmten Kreis und ebenso jede Generation. Wir wissen auch, dass der jeweilige Kreis in eine helle und eine dunkle Seite eingeteilt wurde. 

Den Anfang eines Kreises bildete immer die dunkle Hälfte. Der Monat fing mit dem unsichtbaren Neumond an, der jeweils nächste Tag mit der Abenddämmerung, das Jahr mit dem düsteren November. In diesem Muster wird die keltische Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass das Sein aus finsteren, unfassbaren Tiefen heraus ins Licht des Daseins bricht, ebenso wie das Kind aus dem dunklen Mutterschoß oder der keimende Same aus der dunklen Erde hervortritt. 

Der keltische Tag
Der keltische Tag

Die keltische Zeiteinteilung

Im Gegensatz zu unseren Stunden waren die keltischen Stunden beweglich. Bei Sonnenuntergang oder, noch genauer, in dem Augenblick, in dem der Flug der Schwalben dem der Fledermäuse weicht, ist des nächsten Tages Beginn. Folglich waren im Winter die Nachtstunden viel länger als die Tagesstunden. Im Sommer war es umgekehrt. Der Tag selbst hatte acht Stunden und wurde verglichen mit einem sich drehenden achtspeichigen Rad, dem Spinnrad der Schicksal spinnenden Göttin oder dem Rad des unterirdischen, Wachstum spendenden Cernunnos (ir. Donn oder Dagda), dem Fürst der Anderswelt, dem dunk-
len Bruder des Sternenhimmels. 

Die acht „Speichen” bestanden aus Sonnenuntergang und -aufgang, Mittag und Mitternacht sowie den vier dazwischen liegenden Zeitpunkten. Die Stunde war kein einheitlich neutrales Zeitmaß, sondern jede der acht Stunden hatte ihre eigene Qualität, jede galt als Bereich einer Gottheit. Die Nahtstelle zwischen einer Stunde und der anderen galt als magischer Moment, als eine „Zwischenzeit”, in der Außergewöhnliches geschehen kann, als „Riss”, durch den die Kreaturen der Anderswelt hindurchschlüpfen können.

Auch der keltische Monat mit seinen zwei 14-tägigen „Wochen” (walis.
pymthegnos = „fünfzehn Nächte”; engl. forthnight) folgte demselben Muster. Die erste Woche fing immer mit dem dunklen Neumond an und ging bis zum Vollmond, mit dem Viertelmond als „Wochenmitte“. Der ersten forthnight folgte die zweite, die mit dem nächsten Neumond endete. Neumond und Vollmond waren magische Schwellen, die gefeiert wurden. Übrigens folgt der Kalender der Hindus noch immer diesem Muster. Die zwei an die Mondphasen gebundenen Wochen gelten in Indien als die zwei „Flügel” des Monats.

Das achtspeichige Rad

Das keltische Jahr bestand aus vier vom Sonnenlauf vorgegebenen, festen Kardinalpunkten (im keltischen Britannien als albans bezeichnet), nämlich den Sonnnenwenden und Tagundnachtgleichen. Dieses kosmische „keltische Kreuz” markiert die Hauptfeiertage. Fast noch wichtiger waren die sogenannten Kreuz-Viertel-Tage, die sich genau zwischen den vier Kardinalpunkten befinden. Diese waren ursprünglich dem Mondrhythmus zugeordnet und daher beweglich. Sie wurden während der Vollmondtage im „Weibermonat” (Februar), im „Wonnemonat“ (Mai), im „Erntemonat” (August) und im „Schlachtmonat” (November) gefeiert. Erst später, unter dem Einfluss des römisch-kirchlichen Zeitverständnisses wurden daraus die kalendarisch festgesetzten Tage des 1. Februar (Maria Lichtmess), des 1. Mai, des 1. August und des 1. November (Allerheiligen).

So glich auch das Jahr einem achtspeichigen Spinnrad – die vier Hauptspeichen gehörten der Sonne, die vier dazwischen dem Mond. Die Zeiträume zwischen den „Speichen” empfanden die Kelten als „Räume”, genauer als Reiche, die von verschiedenen Göttern beherrscht wurden und daher verschiedene Qualitäten und Gesetzmäßigkeiten aufwiesen. Die Feiertage zum Anfang und zum Schluss dieser Zeiträume stellten die Grenzen zwischen diesen Götterreichen dar.

Diese Übergänge von einem Zeitraum zum anderen gleichen dem Niemandsland, wo weder Ordnung noch Gesetz herrschen, wo weder der eine noch der andere Herrscher seine Souveränität ausüben kann. Besonders die „Kreuz-Viertel-Tage”, die „Hexenfeiertage”, markieren Augenblicke des wirbelnden Chaos, in denen die Jenseitigen die Menschenwelt heimsuchen und andererseits die Menschen – mittels Rausch, Trance oder Ekstase – leichter mit der „Anderswelt” verkehren können. Diese acht Zeiträume gliederten schon in vorkeltischen Zeiten das neolithische Ackerbaujahr.

Der Text erschien erstmals in „Die Pflanzen der Kelten” von Wolf-Dieter Storl; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des AT Verlag AG, Aarau, Schweiz

Fußnoten

1 Dieser „Alpgöttin” Morrigan verdanken wir das Wort Nachtmahr (engl. nightmare). „Mahr” ist, wie „Mähre” – ein (schlechtes) weibliches Pferd, ein altes keltisches Lehnwort.

2 Die Kriegsgöttin Morrigan ist auch eine Prophetin. Als Abschluss der „Zweiten Schlacht von Mag Tured” schaut sie in die Zukunft: „Ich sehe eine Welt, die mir missfällt: Sommer ohne Blumen, Kühe ohne Milch, schamlose Frauen, mutlose Männer, Verhaftungen ohne König, Bäume ohne Obst und Meere ohne Laich …” usw.

Autor

Wolf-Dieter Storl

Dr. Wolf-Dieter Storl, geboren am 1.10.1942 in Sachsen, ist Kulturanthropologe und Ethnobotaniker. Als Elfjähriger wanderte er mit seinen Eltern nach Amerika (Ohio) aus, wo er die meiste Zeit in der Waldwildnis verbrachte.

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