Schamanisches Reisen

Welten, Wesen und Botschaften in der schamanischen Kosmologie

Im Schamanismus herrscht der Glaube, dass alles beseelt und alles miteinander verbunden ist. Dieses Weltbild erlaubt die Vorstellung, dass Seelenreisen als Heilmethode möglich sind. Der Schamane ist dabei ein Vermittler zwischen unserer irdischen Welt und der Geisterwelt. Unser Autor und Schamane Gunter Herrmann dringt mit uns in die Welt der schamanischen Reisen und erklärt uns diese Seelenreisen mit ihren Welten, Wesen und Botschaften. 

Von Gunter Herrmann, München

Schamanen sind heilerische, rituelle oder religiöse Wissensträger, die zwischen realer und spiritueller Welt vermitteln. Das erstaunliche ist, dass Schamanismus auf allen fünf Kontinenten ausgeübt wird und obwohl er nur mündlich weitergegeben wurde, beinhaltet er doch überall dasselbe Weltbild: Alles ist miteinander verbunden, alles unterliegt einer übergeordneten Gesetzmäßigkeit und alles ist Energie. 

Die vier einander durchdringenden Welten

Die „Orte“, die Schamanen bereisen, um Botschaften von der geistigen Welt zu erbitten, sind unterteilt in vier Welten: die Untere Welt, die beiden Mittleren Welten und die Obere Welt. Bei diesen Welten handelt es sich nicht um wirkliche Orte, sondern um archetypische und energetische Bereiche. Diese Welten sind miteinander verbunden, wirken und fließen ineinander. 

Die Obere Welt beinhaltet unsere göttliche Anbindung und die Untere ist ein Ort der Heilung und Ahnenarbeit. Die Mittlere Welt ist der Ort unseres irdischen Daseins, unseres Wirkens und Arbeitens. Die Zeit erscheint uns linear, weshalb es uns schwerfällt vorzustellen, dass wir in die Vergangenheit oder Zukunft reisen können. Doch mit der Technik des schamanischen Reisens können wir alle vier Welten bereisen. 

Die Obere Welt

Die Obere Welt ist ein schamanischer Erfahrungsraum, wo himmlische Wesen uns den Plan unseres Lebens enthüllen. Es ist der Sitz der geistigen Lehrer, die über uns wachen und uns beschützen. Es ist das Reich der Engel und Erzengel. Hier halten sich die großen Medizinmänner und -frauen auf. Es ist die Ebene des höchsten Selbst. Weicht man zu weit vom eigenen Seelenplan ab, werden uns von hier Signale beispielsweise in Form von Zufällen gesendet, um wieder auf unseren Weg zu finden. Der Empfänger der Signale ist im Herzen. Hier ist der „Funke“ zu Hause, der alles miteinander verbindet.

Die Mittleren Welten

Die Mittlere Welt entspricht einerseits unserer Alltagsrealität mit allem, was wir mit unseren fünf Sinnen wahrnehmen können. Es ist die Ebene unseres Körpers, unseres Egos und Verstandes. Hier ist alles gespeichert, was wir in unserem Leben erfahren und uns angeeignet haben.

In der anderen Mittleren Welt bewegen wir uns mit unserem sechsten und siebten Sinn. Hier können wir den Funken, der in unserem Herzen wohnt, spüren. Hier geht es um das Fühlen, sich verbinden und um das Wissen, dass wir aus reiner Energie bestehen. Hier können wir die Magie in unserem Leben erfahren, die uns einen kleinen Einblick in das große Ganze gibt. 

Die Untere Welt

Die Untere Welt ist der Seelengarten oder auch Garten Eden genannt. Es ist die Heimat der Krafttiere und der Archetypen. Hier können wir Seelenanteile zurückholen, die sich abgespalten haben. Denn durch schlimme Erlebnisse kann es vorkommen, dass sich Anteile unserer Seele abtrennen, weil der Schmerz sie zu erfahren, einfach zu groß ist. Das passiert natürlich nicht auf einer bewussten Ebene, sondern unsere Seele entscheidet das für sich. So ist sie dem Schmerz nicht weiter ausgesetzt und kann in Heilung gehen. Hat die Zeit die Wunde geheilt und das Bewusstsein sich verändert, kann der Seelenanteil zurückgeholt werden, wodurch wir uns wieder vollständiger fühlen.

Die Untere Welt ist auch der Ort der Ahnen, die uns von dort unterstützen, mit denen wir noch etwas aufzuarbeiten haben und die wir noch brauchen, um unser Leben in die richtige Richtung zu bringen. Bei Familienthemen bringen sie Licht ins Dunkle. In der Verbindung zu ihnen geht es viel um Achtung, Respekt und Anerkennung.

Diese Untere Welt will ich euch näherbringen, weil es der Ort ist, der am engsten mit unserem jetzigen Leben verbunden ist.

Der Empfänger der Signale ist im Herzen. Hier ist der „Funke“ zu Hause, der alles miteinander verbindet.

Orte und Wesenheiten der Unteren Welt

In der Unteren Welt gibt es viele Orte und Wesenheiten, die dort existieren. Hier nur einige Beispiele: 

Die Kammer der Wunden   

In der Kammer der Wunden werden uns Szenen aus dem eigenen Leben gezeigt, in denen wir verletzt wurden. Es sind die Verletzungen, die eine Mauer in unserem Herzen errichten ließen, damit wir überleben können. In dieser Kammer können wir die Mauern einreißen, um unser Herz zu befreien. 

Die Kammer der Seelenverträge

In dieser Kammer wird uns gezeigt, welche Seelenverträge wir zu welchen Bedingungen in früheren Leben eingegangen sind. Das können Verträge mit dem Seelenpartner sein, mit dem man einmal vereinbarte, sich wieder zu begegnen und erneut ein Leben miteinander zu verbringen. Es kann sich aber auch um Verträge mit der dunklen Seite handeln, mit der man sich einst verbündete. Meist wissen wir von diesen Verträgen nichts mehr, aber sie können im jetzigen Leben hinderlich sein. Es gibt jedoch die Möglichkeit, diese Verträge neu auszuhandeln oder sie für nichtig zu erklären. 

Die Kammer der Gnade

Hier können wir verlorene Anteile der Seele treffen und zum Zurückkommen auffordern. Es ist ein sehr emotionales Ereignis, wenn Seelenanteile zurückkommen. 

Die Kammer der Schätze

In dieser Kammer werden uns Geschenke in Form von Werkzeugen an die Hand gegeben, die uns in unserem Alltagsleben nützlich sein können, um unserer Bestimmung näherzukommen. Beispielsweise kann uns hier ein Kurs gezeigt werden, den man schon lange besuchen wollte. 

Das Haus des Heilers

Das Haus des Heilers ist vollgestopft mit Kräutern aller Art. Im Hinterzimmer befindet sich eine Badewanne, die er uns bereitwillig mit heiligem Wasser und Kräutern füllt. Dieser Raum ist unbeschreiblich friedlich, überall brennen Kerzen und es tönen leise Klänge. Die Musik lässt den Körper mit unserer Seele verbinden. Die Kräuter und das heilige Wasser reinigen uns von unseren Sorgen, damit wir wieder in Energie und Kraft für unseren Lebensweg kommen. Dieser Raum dient zur Entspannung, Heilung und zur Aktivierung der Selbstheilungskräfte. 

Die Wesenheit des Führers

Der Führer der Unteren Welt ist unser zuverlässiger Begleiter. Er kann sich in den unterschiedlichsten Formen zeigen und ist Beschützer und Reiseführer zugleich. Er kennt alle Wesenheiten und Orte der vier Welten. Bitten wir ihn, uns mit unserem Anliegen an den richtigen Ort zu führen, wird er das mit Freude tun.

Unser Krafttier begleitet uns in der Unteren Welt, es beschützt und führt uns und beantwortet auch unsere Fragen.

Krafttiere

Krafttiere sind im Schamanismus vergleichbar mit Schutzengeln. Darum sollten die ersten Reisen immer dem Zweck dienen, das eigene Krafttier zu finden und es besser kennenzulernen. In schamanisch geprägten Kulturen geht man davon aus, dass jeder Mensch von Geburt an mindes-
tens ein begleitendes Krafttier hat, das ihn unterstützt und Schutz gibt. Es begleitet uns in der Unteren Welt, es beschützt und führt uns und beantwortet auch unsere Fragen. 

Ein Krafttier ist ein bedeutendes und sehr persönliches Helferwesen. Wir können es beispielsweise, wenn wir alleine unterwegs sind und uns unsicher fühlen, zur Unterstützung rufen und an unsere Seite bitten. Es kann sich aber auch ganz real im Leben zeigen bzw. den Kontakt zu uns herstellen wollen. Das wird ein magischer Augenblick sein, den man nie vergessen wird.

Jedes Tier repräsentiert bestimmte Eigenschaften, die wir auch in uns selbst finden können. Fliegt beispielsweise die Libelle als Krafttier ins Leben, so möchte sie auf Themen wie Leichtigkeit, Stille, Dynamik und Flexibilität aufmerksam machen. Libellen scheinen in ihrem natürlichen Lebensraum immer gut gelaunt zu sein, gut balancieren zu können und Gefahren und Hindernisse durch ihre Wendigkeit unglaublich schnell ausweichen zu können. Das Krafttier Libelle möchte uns daher von der eigenen Erstarrung lösen und uns körperlich und geistig agiler machen. Es möchte darauf aufmerksam machen, dass in der aktuellen Lebensphase Leichtigkeit zwingend notwendig ist, damit man über Probleme und Hindernisse hinwegfliegen kann. 

An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen, dass die Größe eines Krafttieres nicht entscheidend ist. Eines meiner Krafttiere ist die Maus und glaubt mir, sie ist unglaublich stark, indem wie sie ihr Leben meistert. 

Die schamanische Reise

Zu Beginn einer schamanischen Reise eröffne ich immer den „heiligen Raum“ mit einem Schutzgebet. Dieses Gebet schließt alle Anwesenden mit ein, ich hole meine geistigen Helfer hinzu und die Ahnen aller Anwesenden. In diesem Raum ist man behütet und geschützt. Keine fremden Energien haben das Recht, in diesen Raum einzutreten. 

Trommeln oder Rasseln sind immer ein fester Bestandteil der Reise. Der Rhythmus, der dabei entsteht, erinnert an den eigenen Herzschlag. Die Trommel oder Rassel nimmt Verbindung mit unserem Herzen auf, sodass sie miteinander agieren. Es fließt Magie. Ich habe schon oft erlebt, dass ich während einer Reise irgendwie feststeckte, es nicht weiterging und ich auch nicht wusste, was ich tun könnte. Als der Schamane dann mit seiner Trommel den Rhythmus änderte, konnte ich weitergehen. Der Rhythmus der Trommel ruft uns, führt uns, verändert Situationen und ist ein Teil von uns und unserer Reise.

Meine Reisen in die Untere Welt beginnen meist damit, dass ich auf einer grünen Wiese liege. Der Himmel über mir strahlt mich an und ich versinke langsam ins Erdreich. Durch die verschiedenen Erd- und Gesteinsschichten erde ich mich noch einmal zusätzlich. Dann lande ich sanft in einem Fluss, der mich ins Erdinnere trägt. Das Wasser ist angenehm warm und es reinigt mich gleichzeitig von allem, was meine Reise beeinflussen könnte. Der Fluss trägt mich immer weiter ins Erdinnere, bis ich an einen Strand ankomme. Ich verlasse den Fluss, gehe eine Böschung hinauf und sehe einen großen Stein, auf den ich mich setze. Dort rufe ich mein Krafttier und den Führer der Unteren Welt. Sind beide da, kann die Reise beginnen. 

Eine meiner schamanischen Reisen

Einmal reiste ich zu der Quelle meines Lebens, mein Krafttier, eine Schildkröte, und mein Führer der Unteren Welt begleiteten mich. Ich setzte mich ans Ufer, wo ein Feuer brannte. Zuerst wunderte ich mich darüber, dass hier ein Feuer brennt, war es doch angenehm warm. Bei näherer Betrachtung sah ich jedoch, dass es blau schimmerte. Es war das Feuer der Transformation, das dazu dient, Ereignisse oder Energien zu wandeln und in die Veränderung zu bringen. 

Ich setzte mich sodann ans Feuer und wartete. Da kam meine Mutter, setzte sich zu mir und umarmte mich. Meine Mutter ist 1999 verstorben und zum ersten Mal zeigte sie sich bei einer schamanischen Reise. Wir fingen beide an, fürchterlich zu weinen. Jeder mit seinem Schmerz über die unausgesprochenen Worte füreinander und der Frage, warum sie mir nicht in der Situation mit meinem Vater geholfen hat. Dieser Prozess dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Wobei das Feuer der Transformation den Schmerz aufnahm und ihn in den Schoss von Mutter Erde brachte, um ihn zu wandeln. 

Nach einiger Zeit beruhigte ich mich, weil ich verstand, dass es nicht nur meine Geschichte gab, sondern auch die meiner Mutter. Ich wusste, dass diese Begegnung noch etwas braucht und dass es hier nicht ausschließlich um mich ging, sondern um UNS. Alles ist miteinander verbunden, auch wenn wir den Sinn dahinter oft nicht verstehen. 

Ich nahm meine Mutter an die Hand, führte sie zu einem Wasserfall und zeigte ihr die Quelle meines Lebens. Wir spürten die Anwesenheit der Ahnen und dass ich in meinem Leben angekommen bin. Sie spürte die Energie, die mich umgab und sie verstand, dass es mir gut geht. Sie musste keine Angst mehr um mich haben und dieses Gefühl heilte den Teil in ihr, unter dem sie selbst litt und den sie am meisten verabscheute. 

Diese Reise diente zur Heilung meiner Wut gegenüber meiner Mutter. Und es zeigte sich noch etwas: Ich verstand, woher ich mein Löwenherz habe. Es ist die Quelle meiner Kraft, die mir in dem ganzen Wahnsinn Halt gab und mich beschützte. Ich habe diese Liebe, die in mir wohnt, von meiner Mutter. Danke dafür, Mama. 

Nach einiger Zeit, verabschiedete sich meine Mutter von mir und sie verließ mich. Ich verabschiedete mich von dem Ort und mein Führer brachte mich wieder zu dem Stein, von dem aus ich in meine reale Welt zurückkehrte. Nicht wir entscheiden, was auf diesen Reisen passiert, das ist das Magische daran. Keine Reise gleicht der anderen und wie verbunden die Untere Welt mit der Wirklichkeit ist, siehst du an meiner Reise. 

Autor

Gunter Herrmann

Gunter Herrmann arbeitet seit 2012 als Schamane, organisiert Trommelreisen in München und Schamanische Retreat Wochenenden. Er bezeichnet sich selbst als Westlicher Schamane und sieht sich als Brückenbauer für Menschen, die mit ihrer jetzigen Lebenssituationen nicht zurechtkommen. Schamanische Techniken und Rituale der alten Zeit unterstützen ihn dabei. https://gunterherrmann.com/

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