Fraktionszwang schlägt Gewissen

Ex-Abgeordneter packt aus

Bundestagsabgeordnete sind nur ihrem eigenen Gewissen verpflichtet, oder etwa nicht? Nun, es wird gemunkelt, dass Parteitaktik und Fraktionszwang– letzterer ist in Deutschland eigentlich verfassungswidrig, weil er gegen das Prinzip des freien Mandats verstößt – in unserer „Postdemokratie“ (Colin Crouch) ziemlich alltägliche Mittel sind, um die Abgeordneten auf Linie zu bringen.

Zu denen, die ganz offen „munkeln“, zählt der ehemalige SPD-Abgeordnete Marco Bülow (19 Jahre SPD-Bundestagsabgeordneter, heute „Die Partei“). Man könne sogar sagen, er „packt aus“. So ließ er sich auf der Veranstaltung „Krisen, Kosten, Korruption im Lobbyland“, veranstaltet von seinem Parteikollegen Martin Sonneborn (Die Partei), wie folgt vernehmen (nicht wortwörtlich):

Du kommst in den Bundestag, bist erst einmal naiv. Man macht das Spiel erst einmal mit. Wenn du dann merkst, es läuft nicht so richtig, versuchst du dich dagegen zu wehren. Dann gibt es erst einmal Druck, dein Leben ist nicht mehr ruhig. Egal, wie lange ich im Bundestag war: Wenn ich gegen meine Fraktion gestimmt habe, war das ein Riesen-Act. Erstmal muss man das in der Fraktion anmelden, das heißt, ich wurde da schon mal gebrandmarkt. Dann gehen viele Leute auf dich zu, sowohl konstruktiv als auch destruktiv. Wenn du dich dann immer noch nicht erbarmt hast, wirst du an den Pranger gestellt, dann wird gedroht. Bei mir war das teilweise fruchtlos. Das geht bis zu: Wenn du das noch einmal machst, wirst du nicht mehr aufgestellt. Es werden alle Register gezogen, dich da rauszubringen. Wenn das nicht hilft, wirst du aus den Ausschüssen abgezogen. Wenn du nicht gerade das Tafelsilber stiehlst, kannst du im Ausschuss bleiben. Aber ich bin z. B. nach 15 Jahren Umweltausschuss – und ich glaube nach dem Verlust von Hermann Scher und von Weizsäcker war ich der einzige Umweltexperte, den die SPD noch hatte – abgezogen worden. Dann streichen sie dir die Fahrtkosten. Es gibt eine ganze Klaviatur, bestimmt von der Fraktionsspitze, die können dir alles nehmen, den Wahlkreis konnten sie mir nicht nehmen, aber alles andere schon. Dieser ganze Druck spielt eine große Rolle. Das Gegenteil ist das Zuckerbrot, wenn du folgst, hast du die Chance, Karriere zu machen, dann kriegst du Posten und Beifall und die Chance, wenn die Lobby im Spiel ist, einen Job zu kriegen nach deiner Abgeordnetenzeit. Daher funktioniert der Lobbyismus auch so gut, weil Abgeordnete mit voraus eilendem Gehorsam, teilweise durch Bestechung und Korruption, Lobbyisten zu Diensten sind, weil sie wissen, nach meiner Karriere im Bundestag bin ich dann bei denen…

Das Video mit dieser Aussage des Ex-SPD-Abgeordneten Marco Bülow kann man sich im Internet z. B. unter https://t.me/GWisnewski/42112 anschauen. (DS)

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