Ein analytischer Blick auf die Ukraine-Krise

„Wir brauchen dringend Deeskalation !“ 

Der bekannte Historiker und Friedensforscher Dr. Daniele Ganser aus der Schweiz erklärt im  aum&zeit-Interview die Zusammenhänge und Hintergründe des Ukraine-Konflikts. Kritisch, aber diplomatisch beleuchtet er wichtige Fakten, die in den großen Medien nicht erwähnt werden und ordnet die Geschehnisse geopolitisch ein. Außerdem zeigt er auf, wie wir mit dem Strom an negativen Nachrichten umgehen und unseren Ängsten trotzen können.

raum&zeit-Interview mit Dr. Daniele Ganser, von Eleni Ehlers, Inzing

Interviewpartner

Daniele Ganser
Dr.

Dr. Daniele Ganser ist ein Schweizer Historiker. Er ist spezialisiert auf Zeitgeschichte und Internationale
Politik. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Friedensforschung, Geostrategie, verdeckte Kriegsführung, Ressourcenkämpfe und Wirtschaftspolitik. Er leitet das Swiss Institute for Peace and Energy Research in Basel.

raum&zeit: Die große Mehrheit der Medien weist Russland mit seinem militärischen Eingreifen am 24. Februar 2022 die alleinige Schuld an der Ukraine-Krise zu. Wie stehen Sie zu dieser Aussage?

Daniele Ganser: Die Invasion von Russland in die Ukraine ist für mich ein klarer Verstoß gegen das UNO-Gewaltverbot und ist daher illegal. Aber die Invasion hat eine Vorgeschichte. Die Volksrepubliken Luhansk und Donezk, auch als Donbass bezeichnet, befinden sich seit acht Jahren im Konflikt mit der ukrainischen Regierung in Kiew. Dieser Bürgerkrieg hat 14 000 Menschen das Leben gekostet. Aber über den Bürgerkrieg haben unsere Medien in den letzten Jahren kaum berichtet. Das Thema Corona hat alles andere verdrängt.

r&z: Was meinen Sie war der Auslöser dafür, dass der schwelende Konflikt eskalierte?

D. G.: Eine dramatische Wendung in diesem Konflikt kam, als Russlands Präsident Putin am 21. Februar 2022 die Volksrepubliken Luhansk und Donezk als unabhängige Staaten anerkannt und zudem erklärt hat, er werde russische Soldaten in die Ostukraine entsenden. Um diesen neuen Status zu schützen, haben diese Staaten ihn daher kurz darauf, am 23. Februar, um Hilfe gebeten. Woraufhin am 24. Februar Russland mit Truppen in die Ukraine einmarschiert ist.

Die Invasion von Russland in die Ukraine ist für mich ein klarer Verstoß gegen das UNO-Gewaltverbot und ist daher illegal.

Die Rolle der NATO

r&z: Sie als Historiker beschäftigen sich immer ganz akribisch mit den Ereignissen in der Geschichte, wann begann aus Ihrer Sicht der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine? Welche Rolle spielen die USA in dieser Krise?

D. G.: Die USA haben Russland nach dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung von Deutschland 1990 versprochen, es werde keine NATO-Osterweiterung geben. Aber dann haben sie ihr Wort gebrochen. 1999 kamen Polen, Ungarn und die Tschechei in die NATO. 2004 weitere Länder, darunter Rumänien, Bulgarien, Estland, Lettland und Litauen. Das hat Putin verärgert. Dann haben die USA im April 2008 auf dem NATO-Gipfel in Bukarest durchgesetzt, dass die Ukraine und Georgien Mitglieder der NATO werden sollen. Frankreich und Deutschland haben damals noch gewarnt, dass damit der Bogen überspannt wird. Da beide Länder direkt an Russland grenzen, wurden die Russen unnötig gereizt. Aber viele Menschen können sich nicht mehr an diese Vorgeschichte des Konflikts erinnern.

Der vergessene Putsch

r&z: Nach dem Wortbruch der amerikanischen Regierung gegenüber Russland folgte 2014 ein weiteres einschneidendes Ereignis: Der Sturz des damaligen Präsidenten der Ukraine. Können Sie dies bitte etwas näher ausführen?

D. G.: Ja, 2014 haben die USA die Janukowytsch-Regierung gestürzt. Das war ein schwerer Fehler, der direkt zu den heutigen Spannungen geführt hat. Heute spricht fast niemand mehr über diesen Putsch der USA. Es ist wichtig, dass wir uns an diesen vergessenen Putsch erinnern. Denn erst nach dem Putsch hat sich die Halbinsel Krim 2014 in einer Abstimmung zu Russland geschlagen, wodurch die Landmasse der Ukraine verkleinert wurde. Und auch der Donbass hat sich abgespalten und erklärte, er werde der Putschregierung nicht gehorchen. Das war der Auslöser des Bürgerkrieges, der acht Jahre dauerte. Der damalige Putsch wurde durch Scharfschützen ausgelöst, die in Kiew am 20. Februar 2014 sowohl Demonstranten als auch Polizisten erschossen und das Land ins Chaos gestürzt hatten. Präsident Wiktor Janukowytsch und Ministerpräsident Nikolai Asarow mussten zurücktreten. Die USA installierten Arsenij Jazenjuk als neuen Ministerpräsidenten und Petro Poroschenko als neuen Präsidenten.

Die North Atlantic Treaty Organisation (NATO, gegründet 1949) ist die größte und am stärksten bewaffnete Militärallianz, die es bis jetzt gegeben hat. Ihre 30 Mitgliedsländer befinden sich in Nordamerika und Europa. Im Kalten Krieg hat die NATO sich auf die Verteidigung ihrer Mitgliedsländer konzentriert und keine illegalen Angriffskriege geführt. Später jedoch, nach dem Mauerfall im November 1989, nahm die Zahl ihrer Angriffskriege zu. Zu diesen zählen der Angriff auf Serbien 1999 mit deutscher Beteiligung sowie der Angriff auf Afghanistan 2001, erneut mit deutscher Beteiligung. Im Jahr 2003 griffen die NATO-Staaten USA und Großbritannien den Irak an. Es folgte der Sturz von Präsident Gaddafi in Libyen 2011, bei dem auch das NATO-Mitglied Norwegen Bomben abwarf, und die Bombardierung von Syrien 2014.

(Quelle: Dr. Daniele Ganser, Illegale Kriege, Orell Füssli Verlag 2016)

Einfluss der USA auf die ukrainische Regierung

r&z: Sie sprechen von einem Putsch, der von der amerikanischen Regierung unterstützt oder gar forciert wurde. Gibt es dafür Beweise?

D. G.: „Es war ein vom Westen gesponserter Putsch, es gibt kaum Zweifel daran“, erklärte damals der gut informierte frühere CIA-Offizier Ray McGovern. Meiner Meinung nach war es klar ein Putsch der USA, um die Ukraine in die NATO zu ziehen. Im US-Außenministerium hatte Victoria Nuland die Fäden gezogen, zusammen mit Geoffrey Pyatt, dem US-Botschafter in der Ukraine. Die Telefongespräche zwischen Nuland und Botschafter Pyatt, in denen sie vor dem Putsch die Zusammenstellung der neuen Regierung besprachen, wurden abgehört und erregten Aufsehen, weil Nuland damals mit dem Ausdruck „Fuck the EU“ die Europäische Union beleidigt hatte. Aber viele in Westeuropa haben das heute vergessen, weil es schon acht Jahre her ist. Die Russen haben es aber nicht vergessen. Und auch die gestürzten Politiker in der Ukraine wissen, dass die USA für den Putsch in Kiew verantwortlich sind. „Die Amerikaner forcierten erkennbar die konfrontative Entwicklung“, erläuterte der gestürzte Ministerpräsident Nikolai Asarow später in seinem Buch über den Putsch. Die Anführer der Demonstration auf dem Maidan seien in der US-Botschaft ein und aus gegangen und von dort bezahlt und befehligt worden. Es sei den USA aber nie wirklich um die Ukraine gegangen, so Asarow. Man habe die innerukrainischen Konflikte nur als Hebel in der Auseinandersetzung mit Russland benutzt, um Eurasien zu spalten und dadurch zu schwächen.

Die politische Lage aus russischer Sicht

r&z: Das klingt so, als ob Putin, aus seiner Sicht berechtigte Sicherheitsinteressen verteidigt. Was ist Ihr Standpunkt dazu?

D. G.: Putin verteidigt sich gegen die NATO-Osterweiterung. Russland ist der Meinung, die Ukraine dürfe auf keinen Fall Mitglied der NATO werden. Das ist die rote Linie für Moskau. Putin hat bei seinem Treffen mit US-Präsident Biden im Juni 2021 in der Schweiz dieses Thema angesprochen. Er hat versucht, von Biden eine schriftliche Garantie zu erhalten, dass die Ukraine nie in die NATO aufgenommen werde. Aber Biden hat das abgelehnt. Nun hat Putin den Weg der Invasion gewählt. Das ist bedauerlich und illegal. Wir sollten immer versuchen, Konflikte ohne Gewalt zu lösen. Mein Eindruck ist, dass Putin versucht, einen Schachzug der NATO zu kopieren, den diese 1999 im Kosovo angewendet hat: Damals gab es in Serbien Spannungen zwischen der UÇK („Befreiungsarmee des Kosovo“) und den Serben. Daraufhin hat die NATO angegriffen und den Kosovo aus Serbien herausgetrennt, so wie jetzt Putin den Donbass aus der Ukraine herausgetrennt hat. Der Internationale Gerichtshof sagte damals zum Kosovo, dass eine einseitige Sezession, also Unabhängigkeitserklärung, vom Völkerrecht gedeckt sei. Putin wird argumentieren, dass der Donbass die Unabhängigkeit ausrufen und Moskau um Hilfe anfordern durfte. Aber die NATO-Staaten, vor allem die USA, sehen das natürlich ganz anders und betonen, dass die Grenzen der Ukraine von Russland nicht verletzt werden dürfen, obschon sie das in Serbien selber getan haben.

r&z: Der Westen liefert Waffen an die Ukraine und fordert harte Sanktionen gegenüber Russland. Wie stehen Sie dazu?

D. G.: Ja, die USA haben die Regierung in Kiew in ihrem Krieg gegen den Donbass seit Jahren mit Waffen und Beratung unterstützt. Die Einmischung der USA in die Politik der Ukraine halte ich für einen schweren Fehler. Wenn Moskau sich in die Politik von Mexiko einmischen und Truppen in Mexiko an der Grenze zu den USA trainieren und bewaffnen würde, wäre Washington auch nicht erfreut.

Putin verteidigt sich gegen die NATO-Osterweiterung.

Was würde Frieden bringen?

r&z: Was wäre jetzt die beste Vorgehensweise der westlichen Staaten, um eine weitere Eskalation zu verhindern?

D. G.: Im UNO-Sicherheitsrat wird es keine Lösung geben, weil die Atommächte USA und Russland beide auch Vetomächte sind. Was es jetzt braucht, ist Deeskalation. Sowohl die Ukrainer wie auch die Russen gehören zur Menschheitsfamilie. Es leben wunderbare Menschen auf beiden Seiten der Gefechtslinie. Der Westen muss einräumen, dass der Putsch von 2014 ein grober Fehler war. Und Russland muss seine Truppen wieder aus der Ukraine abziehen. Die Ukraine sollte erklären, dass sie niemals der NATO beitreten wird. Das könnte für Entspannung sorgen.

Mit Achtsamkeit aus der Gewaltspirale

r&z: Durch die einseitige Berichterstattung in den sogenannten Hauptmedien, werden verstärkt Hass und Diffamierung produziert. Wie kann man sich breit und vorurteilsfrei informieren?

D. G.: Es ist wichtig immer verschiedene Medien zu konsumieren. Man sollte dabei beachten, dass man Berichte aus verschiedenen Blickwinkeln liest. Man könnte zum Beispiel Artikel zum Thema Ukraine-Konflikt zuerst in der Süddeutschen Zeitung und dann bei RT Deutsch nachlesen. Hilfreich ist hierbei auch der Medien-Navigator, welchen man im Internet findet. Er ordnet die bekannten Medien nach ihrer politischen Ausrichtung zu. Zudem sollte man die Entstehung des Konflikts auf der historischen Zeitachse einordnen, das ergibt einen guten Überblick.

r&z: Die Medien berichten vor allem über negative Ereignisse und Krisen, welche bei vielen Menschen Gefühle von Angst und Ohnmacht hervorrufen. Wie kann man am besten konstruktiv mit seinen Ängste umgehen?

D. G.: Leider wird viel gelogen und getötet auf der Welt. Zu viel. Seit Jahrtausenden. Wer das erkennt, kann ein Gefühl von Ohnmacht empfinden. Mein Rat ist dann, dass man sich auf folgende sechs Punkte, die man tatsächlich beeinflussen kann, fokussiert. Erstens den eigenen Atem: Ruhig und tief zu atmen reduziert die Ohnmacht. Zweitens die eigenen Worte: Über welche Themen spreche ich in der Familie und mit Freunden? Drittens den Medienkonsum: Jeder entscheidet selbst, was er oder sie am Morgen an seine/ihre Ohren und Augen heranlässt. Der Fokus auf positive Nachrichten oder eine Mediendiät hilft die Ohnmacht zu lindern. Offline ist das neue Bio. Man sollte den Laptop auch mal zuklappen und das Smartphone einige Tage in eine Schublade legen. Viertens die Ernährung: Was esse ich? Gesunde Ernährung hilft. Erneut entscheidet jeder/jede selbst. Fünftens das eigene Konsumverhalten: Für welche Produkte gebe ich mein Geld aus? Durch Achtsamkeit kann man sechstens seine eigenen Gedanken und Gefühle aus einer gewissen Distanz beobachten. Wenn man erkennt, dass man nicht die Gedanken und Gefühle ist, sondern das beobachtende Bewusstsein, kann das auch dazu beitragen, Angst und Ohnmacht abzubauen.

Man trägt niemals die Verantwortung für die Worte der anderen Menschen.

Der persönliche Umgang mit Diffamierung und Abwertung

r&z: Wenn man über den Krieg in der Ukraine spricht, kann es zu Streit kommen, weil die Meinungen auseinandergehen. Auch in den sozialen Medien gibt es Hassrede und Abwertung. Wie soll man damit umgehen?

D. G.: Wenn man über den Putsch in der Ukraine 2014 spricht oder über die NATO-Osterweiterung kann es schon zu Streit kommen, weil viele diese Aspekte des Konflikts völlig ausblenden. Gerade in den sozialen Medien werden oft Beleidigungen ausgeteilt. Mein Rat ist, dass man trotzdem ruhig und tief atmet, und sich daran erinnert, dass auch eine böse Diffamierung einen nie daran hindert, tief zu atmen. Indem man den Fokus auf den eigenen Atem legt statt auf die Abwertung, verliert die Diffamierung an Kraft. Man kommt zu sich. Danach soll man sich fragen: Habe ich böse Dinge gesagt oder geschrieben? Wenn ja, soll man damit aufhören. Wenn nein, kann man sich beruhigen. Man trägt nur die Verantwortung für die eigenen Worte. Es gibt mehr als sieben Milliarden Menschen auf der Welt, die täglich viele verschiedene Dinge sagen und schreiben. Das kann man nicht beeinflussen. Man trägt niemals die Verantwortung für die Worte der anderen Menschen. Wenn andere Menschen im Gespräch Diffamierung einsetzen, soll man das auf keinen Fall selber auch tun. Die Übung besteht dann darin, trotzdem friedlich und sachlich zu bleiben. Denn es gibt zu allen Fragen immer eine Pluralität von verschiedenen Standpunkten. Über seine eigene Art zu sprechen zeigt man seine Werte und auch seinen Respekt für die anderen Menschen. Es gilt die Regel: Was Paul über Peter sagt, sagt mehr über Paul als über Peter. Dies bedeutet: Jeder zeigt über seine Sprache seine Kultur und seinen Stil. Wer sich für den Frieden engagiert, soll wenn immer möglich danach trachten, friedlich zu kommunizieren und jede Diffamierung und Abwertung zu vermeiden. Wenn es einem trotzdem passiert, dass man andere Menschen diffamiert, soll man sich daran erinnern, dass Diffamierung eine Funktion des Egos ist, das stets unsicher ist, und sich besser fühlt, wenn es jemanden abwertet. Durch Achtsamkeit kann man seine eigenen Gedanken und Gefühle und das eigene Ego aus einer gewissen Distanz beobachten. Wenn man erkennt, dass man nicht das Ego ist, sondern das beobachtende Bewusstsein, wird klar, dass Diffamierung unnötig ist.

Online-Community

Die kostenpflichtige Online-Community gibt es seit dem 1. Januar 2022. Als Mitglied der Community bekommen Sie die Möglichkeit, Daniele Ganser ganz nah bei seiner Arbeit zu begleiten. Sein Ziel ist die Stärkung der Friedensbewegung. Seine Community ist eine interaktive digitale Plattform und funktioniert nach dem Prinzip der Menschheitsfamilie: Jede und jeder kann mitmachen, unabhängig von Wohnort, Nationalität, Alter, Hautfarbe, Ausbildung, Geschlecht, Religion oder Impfstatus. Es braucht nur ein echtes Interesse am Thema innerer und äußerer Frieden und einen respektvollen und toleranten Umgang in der Gruppe. „Blicke mit mir hinter die Kulissen der Macht und lerne, wie durch Kriegspropaganda und Geostrategie die Menschheitsfamilie gespalten wird. Gehe gemeinsam mit Gleichgesinnten auf die Reise und erkenne, wie wir den inneren Frieden durch
Achtsamkeit stärken können. Wenn du magst, tausche dich aus und vernetze dich mit anderen Menschen in meiner Community.“

Als Mitglied hat man Zugang zu zahlreichen Videos zu Themen des inneren und äußeren Friedens.
Es gibt monatlich Online-Gesprächsrunden und man kann über die Friedenskarte andere
Friedensstifter kontaktieren und kennenlernen.

https://community.danieleganser.online/

Autorin

Eleni Ehlers
M. Sc.

Eleni Ehlers, geb. 1990, Ausbildung zur Zierpflanzengärtnerin, Bachelor in Biodiversität und Ökologie, Master in Botanik, interessiert an Naturheilkunde, Heilkräutern und Geistigem Heilen, derzeit Redakteurin in der Redaktion des Ehlers Verlages.

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