raum&zeit: Was verstehen Sie unter matriarchaler Landschaftsmythologie?
Heide Göttner-Abendroth: Wir beginnen so zu schauen, wie die ersten Siedler und die ersten Wanderer in diesen Gegenden die Landschaft gesehen haben. Das bezieht sich auf die jungsteinzeitliche Epoche mit den ersten Bauern, Siedlern und Hirten, die auf den Höhenlagen unterwegs waren.
In der Jungsteinzeit hatten die Menschen ein Weltbild, das wir heute nicht mehr haben, das für sie von Kräften in der Natur durchdrungen ist. Insbesondere ehrten sie die Weiblichkeit der Erde als ein göttliches Wesen, als eine Urgöttin, worauf unser heutiger Ausdruck „Mutter Erde” noch hinweist.
Immer da, wo sie Landschaftszüge sahen, die die Weiblichkeit der Erde ausdrückten, wo sie beispielsweise Busenberge oder Schoßtäler sahen, waren das für sie besondere Plätze, die sie dann mit der Weiblichkeit der Mutter Erde in Verbindung brachten. Das waren für sie heilige Plätze, an denen sie manchmal Steinsetzungen oder Steinritzungen schufen und von dort aus die Landschaft verehrten.
Das ist eine matriarchale Haltung, weil man nicht irgendwie einen transzendenten Gott suchte, sondern die Erde und der Himmel, so wie sie sind, als göttlich betrachtete. Das gehört zu den matriarchalen Kulturen der frühen Jungsteinzeit.
Zur Landschaft kommt dann die Mythologie hinzu, denn man muss die lokalen Sagen mit in Betracht ziehen. Viele Berge sind zum Beispiel verbunden mit weißen Frauen oder sogar drei Frauen oder tragen Namen, die auf mythologische Wurzeln zurückgehen, die auch aus der Jungsteinzeit stammen. Die Göttinnensagen oder Sagen der heiligen Frauen und der Saligen haben alle sehr alte Wurzeln und wenn man sie in einer bestimmten Landschaft konzentriert in Sagen findet, kann man das Weltbild und den Blick der frühen Siedler am allerbesten erschließen. Darum Landschaften und Mythologie, darum matriarchale Landschaftsmythologie.
Jungsteinzeitliche Epoche war matriarchal
r&z: In Ihrem Buch über matriarchale Landschaftsmythologie beziehen Sie sich immer auf die kulturhistorische Epoche der Jungsteinzeit. Herrschte damals ein Matriarchat?
H. G.-A.: Aller Wahrscheinlichkeit nach müssen wir davon ausgehen. Das zeigen auch die Zeugnisse der Archäologin Marija Gimbutas, dass die jungsteinzeitliche Epoche in Europa matriarchal war.
Dazu muss man wissen, was matriarchal heißt. Es bedeutet nicht, dass Frauen geherrscht haben, sondern die matriarchalen Gesellschaften waren egalitär. Sie beruhten auf einem Ausgleich und gegenseitiger Kooperation, und die Politik beruhte auf Konsens. Das heißt, da konnte niemand – kein Geschlecht, keine Klasse oder Gruppe – über das andere Geschlecht herrschen. In den Sippen waren die Ältesten in der Mutterlinie organisiert, also die Großmütter und deren weibliche Nachkommen.
Dieses Wissen habe ich nicht nur aus der Archäologie allein, sondern ich habe ja heute noch lebende matriarchale Gesellschaften in den Kontinenten Afrika, Asien und Amerika erforscht. Und da sieht man genau diese Muster der Gleichwertigkeit beider Geschlechter. Diese Konsenskultur wird in jeder dieser noch lebenden matriarchalen Gesellschaften gelebt!
Mit diesem Wissen habe ich mir dann die frühe Epoche noch einmal genauer angeschaut, auch unterstützt durch die archäologische Forschung von Marija Gimbutas in Südosteuropa, die diese Epoche „matristisch“ nennt. Sie meint damit genau dasselbe, nämlich egalitäre Gesellschaften, die auf mütterlichen Werten beruhen. Nach meinen Erkenntnissen und neuerer Archäologie gilt das aber für ganz Europa und auch noch für viele Areale auf der Welt und zwar speziell für die neolithische Epoche, in der die ersten Bauern siedelten, also die Feldarbeit entstanden ist. Es waren Frauen, die die Gärten und die Felder bewirtschaften und im Grunde den Getreideanbau erfunden und entwickelt haben. Das hat ihnen natürlich eine wichtige Rolle gegeben. Die Männer blieben bei Jagen, Handeln oder dem Bau von Megalithanlagen, die auch zu dieser Kultur gehören. Und so wirkten beide Geschlechter zusammen.